Fleischmann oder Märklin? Für die alte Glaubensfrage aus westdeutschen Hobbykellern haben die beiden Herren nur ein müdes Lächeln übrig. „Weder noch“, antwortet Jürgen Jacobs geduldig, der Laborchef der Eisenbahntechnischen Lehr- und Versuchsanlage (ELVA). Und auch um die frühere DDR-Marke Piko handelt es sich augenscheinlich nicht. Die Schienen und Züge stammen vom österreichischen Hersteller Roco. Eingefleischte Modelleisenbahn-Fans rümpften über den früher die Nase.
Das schmälert nicht den überwältigenden Eindruck beim Betreten des zweihundert Quadratmeter großen Souterrains des verkehrswissenschaftlichen Institutes an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen, zu dem die ELVA gehört.
Schlichte Alu-Profile
Auf vier Ebenen schlängeln sich 1200 Meter Schienen auf einem 20 Meter langen Tisch durch den Raum, ebene Strecken, Kurven, Steigungen, Abstellgleise und Weichen. Auf den Schienen fahren ein ICE sowie vierzehn verschiedene Regional- und Güterzüge. Modellhäuser, Kunstrasen oder gar Berglandschaften in Miniatur aber sucht man hier vergebens. Der Traum eines jeden Modelleisenbahners ist verlegt auf schlichten Alu-Profilen und schwarzen Kunststoffplatten. Schließlich geht es hier um Präzision und Forschung. Und zwar an einem der dringlichsten Probleme der Deutschen Bahn: Pünktlichkeit – beziehungsweise ihrem Gegenteil.
Nur dreiviertel der ICE, Intercitys und Eurocitys erreichten 2018 ihr Ziel pünktlich. „Die Verspätungen im Güterverkehr sind sogar noch um ein vielfaches höher“, sagt Institutsleiter Nils Nießen.
Es hakt an der Umsetzung
Die peinliche Bilanz bescherte dem Staatsunternehmen zwei Krisengipfel mit dem Verkehrsminister sowie jede Menge Kritik und Spott. Das Satire-Magazin der Postillon etwa titelte: „Gerichtsurteil: Deutsche Bahn muss für Winterfahrplan Glücksspiel-Lizenz beantragen.“
Eine Behebung der Ursachen scheint nur langfristig möglich. Zwar sind die Fahrpläne der Bahn fahrbar, was nicht in allen Ländern selbstverständlich ist. Es hakt aber an der Umsetzung. Die Gründe dafür sind zu wenig Personal, Investitionsrückstau, immer mehr Nutzer – eine eigentlich gute Nachricht –, versäumte Instandsetzungen, verschleppte Wartung, kaputte Züge und veraltete Technik in einem System mit extrem langen Innovationszyklen. Waggons oder Stellwerke etwa werden viele Jahrzehnte lang genutzt. Das führt dazu, dass zum Beispiel die Kupplungen der Waggons im Güterverkehr immer noch per Hand bedient werden. „Obwohl es seit Jahrzehnten automatische Kupplungen gibt.“
Doch eigentlich ist Nils Nießen der Mann für die gute Nachricht. Es gibt Abhilfe durch Computerprogramme, die unter anderem an seinem Institut entwickelt werden. Diese verhindern nicht die sogenannte Urverspätung, wenn ein Triebwagen ausfällt, ein Baum auf der Strecke liegt oder eine Schulklasse beim Einsteigen in den Zug dessen Abfahrt verzögert. Aber sie können die Folgeverspätungen verringern. Das erledigen bisher Disponenten in einer der sieben Betriebszentralen der Bahn. Sie entscheiden im Falle einer Urverspätung, was zu tun ist, um deren Fortpflanzung einzudämmen. Welche Trasse wird für welchen Zug freigegeben? Gibt es Ausweichmöglichkeiten? Wo sollen welche Anschlusszüge auf verspätete Reisende warten?
Alles hängt in einem sehr komplexen, mehrdimensionalen System miteinander zusammen und kann Folgen im gesamten Streckennetz verursachen, eine verspätete Abfahrt in Berlin etwa Verzögerungen bis in das Ruhrgebiet. Und morgens bei viel Verkehr sind andere Entscheidungen zu treffen als in der Nacht.
750 000 Euro Investition
„Der Mensch ist bei so großen Ereignissen überfordert, er entscheidet erfahrungsbasiert und versucht das Problem vor allem lokal zu lösen“, erklärt Nils Nießen. „Algorithmen treffen die besseren Entscheidungen, weil der Computer in kurzer Zeit alle Möglichkeiten betrachtet, die das Streckennetz bietet.“ Dabei soll der Rechner den Menschen keineswegs ersetzen, sondern ihm Vorschläge unterbreiten. Dazu sind die Programme bereits in der Lage. Wie aber müssen diese Vorschläge gestaltet sein, dass der Mensch sie zeitnah erfassen kann? Was aber vor allem aussteht, ist die Überprüfung dieser Vorschläge in Echtzeit auf einem realen Streckennetz. „Die Bahn will das verständlicherweise nicht auf ihrem Streckennetz ausprobieren.“ Nils Nießen grinst.
Also wurde zu diesem Zweck die Modellanlage im Keller der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule mit einer Investition von 750 000 Euro erneuert. In einer Ecke des Souterrains zeugen Kartons mit Kabeln, Werkzeugkisten, Platinen und Lötkolben davon, dass die vom Institut unter der Mithilfe von Studenten über drei Jahre selbst gebaute Anlage erst vor wenigen Wochen eingeweiht wurde. Zudem liegen noch Teile der alten Anlage auf dem Boden. Sie entstand in den 1950er Jahren und diente ausschließlich zum Training von Signaltechnik und Sicherungsketten.
An großen mechanischen Stellwerken, die an Fitnessgeräte zum Krafttraining erinnern, können Studenten oder Bahnmitarbeiter Sicherungsabfolgen lernen und üben. Das haben sogar schon Ingenieure der luxemburgischen Bahn genutzt.
Neben zwei mechanischen Stellwerken, die mit festen Handgriffen über Stahlseile bedient werden, finden sich in der Anlage auch ein elektromechanisches Stellwerk sowie ein Relaisstellwerk. Diese ab Ende der 1950er Jahre gebräuchlichen Apparate wurden noch von Hand verdrahtet. Ab 1989 dann entwickelte man elektronische Stellwerke.
Die Versuchsanlage ist aber kein Museum. „Es gibt noch 700 mechanische Stellwerke draußen, von denen einige mehr als 100 Jahre alt sind“, erklärt Laborleiter Jürgen Jacobs und legt mit einem lauten Klacken einen der Hebel um. „Diese Stellwerke sind nicht unbedingt schlecht, lassen aber verhältnismäßig wenige Zugfahrten zu.“ Neben den Stellwerken gibt es im Labor auch Signale aus allen Epochen, sowie Modelle von Achsenzählern oder zur Anschauung von Containerlogistik.
Für die jetzt mit der Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gestarteten wissenschaftlichen Untersuchungen war die bisherige Anlage zu klein und veraltet. „Die Züge fuhren zu schnell in den nächsten Bahnhof ein, um die Komplexität einigermaßen nachspielen zu können“, bringt es Laborchef Jürgen Jacobs auch für den Laien verständlich auf den Punkt.
In den Kinderschuhen
Jetzt ermöglichen die 1200 Meter Modellstrecke die Simulation von mehr als 100 Kilometern unterschiedlicher Streckentypen. Auf der neuen Gleisanlage sind Magnetzellen installiert, die jeden einzelnen Zug präzise erfassen, von denen momentan bis zu 15 gleichzeitig fahren und gemessen werden können.
„Wir betreiben nun die modernste Versuchsanlage in Deutschland“, sagt Institutsleiter Nils Nießen stolz. Zwar gibt es auch zum Beispiel in Dresden eine große Versuchsanlage, wo der grundlegende Bahnbetrieb erforscht werden kann. „Die ist aber weniger automatisiert und modern.“
Doch noch steckt die Forschung in Aachen in den Grundlagen. Nicht alles ist fertig verkabelt unter den schwarzen Kunststoffplatten der Modelleisenbahn.
Die Wissenschaftler arbeiten noch an der Kommunikation zwischen der Modellanlage und den Algorithmen sowie an den Entwürfen für Szenarien, die auf dem Modell nachgespielt werden sollen. Auch benötigen sie noch mehr Informationen und Daten aus dem echten Bahnbetrieb. Wenn alles fertig ist, werden sie die realen Fahrpläne der Bahn mit Urverspätungen aus dem Takt bringen und testen, welchen Domino-Effekt diese auslösen. Vor allem aber wollen sie herausfinden, wie sich das System mit Algorithmen wieder ins verspätungsfreie Gleichgewicht bringen lässt.
Ziel des Projektes ist die Anwendungsreife ihrer Software, die über ein ausgegliedertes Unternehmen des Institutes vermarktet wird. Nils Nießen ist sich sicher, dass es ausreichend Bedarf geben wird. Nicht nur wegen der akuten Betriebsprobleme der Deutschen Bahn. „Die Schweizer Bahn zum Beispiel geht davon aus, in 20 Jahren den vollautomatischen Betrieb zu fahren, dafür brauchen sie Algorithmen.“
Und wer von ihnen hat eine Modelleisenbahn zuhause? Die letzte Frage verursacht bei den Herren – wie die erste – nur ein müdes Lächeln.
Nils Nießen schüttelt den Kopf. „Ich bin einfach nur begeistert davon, Optimierung umzusetzen“, erklärt der Professor. Die Modelleisenbahn sei dafür lediglich Mittel zum Zweck. Und Jürgen Jacobs? Der Laborleiter lacht. „Ich gebe es ja zu, ich habe eine Modelleisenbahn zuhause – aber nur eine kleine.“
Denn wer hat schon Platz für 1200 Meter Schienen im Keller.
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