Ort intakt, Würste gut

Wolfger Pöhlmann hat ein großartiges Buch über die Kulturgeschichte der Wurst geschrieben. Auch in Mannheim hat er bei seinen Recherchen Erzählenswertes entdeckt.

Von 
Annika Wind
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Ein Land, 1500 Sorten: So verschieden die deutschen Regionen, so verschieden die Wurstvorlieben. Im Bild zu sehen sind Weimarer Knackwürste. © Pöhlmann, Bieräugel, dpA

Winzige Wurststückchen in Aspik. Ein Hauch von Gemüse dazu, gepresst in eine kreisrunde Geleemasse, und schon wurde er sichtbar: der Grundriss der Mannheimer Quadrate. Ihn jedenfalls entdeckte Wolfger Pöhlmann eines Tages in einer Wurstscheibe, als es an das Kapitel über den Südwesten Deutschlands ging.

Sicher, etwas albern war sein Vergleich. Aber allzu ernst durfte der Kunsthistoriker seine Mammutaufgabe ohnehin nicht mehr nehmen, um sie überhaupt zu bewältigen: Jahrzehntelang war der Kulturmanager für das Goethe-Institut um die Welt gereist, um Kunstausstellungen zu organisieren. Dann, kaum im Ruhestand, wollte er endlich eine Kulturgeschichte der Wurst schreiben. „Ich hatte die naive Vorstellung, dafür durch ganz Deutschland und alle seine 294 Landkreise zu fahren und zu recherchieren“, sagt Pöhlmann in der Rückschau. Doch schon nach der ersten Wurstplatte kam er an seine Grenzen: All die Sorten, Eigenarten und Varianten, die Deutschland in Sachen Fleischproduktion zu bieten hat, kann ein einzelner Mensch nicht durchprobieren. Nicht einmal einer wie Wolfger Pöhlmann, der Würste seit seiner Kindheit liebt.

Dass sein fast 500 Seiten starkes Buch nun „nur“ eine Auswahl präsentiert, hat aus seiner Kulturgeschichte vielleicht keinen echten Wurstatlas mit Anspruch auf Vollständigkeit gemacht, dafür ein echtes Lesevergnügen. Denn Pöhlmann ist vor allem ein begnadeter Erzähler, der zwischen Bayern und Brandenburg, zwischen dem Saarland und Sachsen Geschichten aufgestöbert hat. Sein Buch trägt Amüsantes, Interessantes und Kurioses zu den schätzungsweise über 1500 verschiedenen Sorten Wurst zusammen, die dieses Land hervorbringt.

Gut zweieinhalb Millionen Tonnen Wurst verzehren die Deutschen durchschnittlich im Jahr und so ist es nur konsequent, auch von den Schattenseiten in der Fleischproduktion zu erzählen – von zweifelhafter Tierhaltung und dem Schicksal vieler kleiner Betriebe, die dem Preisdruck nicht mehr standhalten können oder schlichtweg keinen Nachwuchs finden.

Uert, ursti, Wursti

„Meine Erfahrung, dass die Würste dort besonders gut sind, wo Orte und Landschaft noch intakt sind, hat sich weitgehend bestätigt“, sagt Pöhlmann, der in seinem Buch auch einzelne Metzgereien vorstellt – mit all ihren „Fleischhackern“ (wie man sie etwa in Ostdeutschland nennt) oder „Wurstern“ (wie sie in der Bodenseeregion bezeichnet werden). Die Wurst als Wort stammt, so vermuten Sprachwissenschaftler, wohl vom indogermanischen „uert“ ab, was so viel wie „drehen“ bedeutet. Aus dem „uert“ sei „ursti“, dann „Wursti“ und schließlich „Wurst“ geworden.

Wie die einzelnen Sorten zu ihren Namen kamen, hängt vom Tier, von den Gewürzen, der Form, Haut, Konsistenz, Farbe und Zubereitungsart ab. Nach den Regionen des Landes geordnet, fördert jedes von Pöhlmanns Kapiteln lokale Vorlieben zutage: Während die Süd- und Ostdeutschen am liebsten Brühwürste mögen, setzen die Norddeutschen gern auf Rohwürste wie Salami oder Mett. Im Westen wird der Schinken regelrecht zelebriert, im Osten sind es die Bratwürste. Wolfger Pöhlmann blickt in die Kunst-, Design- und Literaturgeschichte, er entlarvt Goethe als Wurstliebhaber, der sich (auch) von seinen Geliebten, von Charlotte von Stein oder Christiane Vulpius, mit Nachschub versorgen ließ, wie Briefe belegen.

Dass er anschaulich beschreibt, wie welche Wurst schmeckt, ist für solch ein Thema zwar selbstverständlich – doch einige Entdeckungen klingen so schmackhaft, scheußlich oder amüsant, dass es eine Freude ist, ihm von Landstrich zu Landstrich zu folgen. Pöhlmann hat für sein Buch bayerisches Weißwurst-Eis getestet, er beschreibt „künstlerische Wursterlebnisse“ von Beuys’ Fettecken bis zu Christos „5600 Cubicmeter Package“, das er als „Riesenwurst“ zur documenta 1968 in den Kassels Himmel steigen ließ.

Weck, Worschd, Woi

Er erklärt, was es mit Weißwürsten mit integriertem Senf aus Stuttgart auf sich hat, wie eine Berliner „Streichelwurst“ aussieht und warum man in Kassel gern „Ahle Worschd“ isst. Er reist zu den „Lutherwürsten“ im süddeutschen Balzheim und zu den Wurststollen im ostdeutschen Aue, er testet Currywürste, die in Düsseldorf mit Blattgold belegt sind und besucht Köln, wo man Alt-Kanzler Konrad Adenauer eine Fleisch-Kreation gewidmet hat.

Apropos Wurst und Politik. Klar, dass das Buch nicht ohne Helmut Kohls Saumagen auskommt und all jenen Anekdoten, nach denen sich etwa Michail Gorbatschow und der Kanzler erst bei einem Saumagen das „Du“ anboten und damit den „Deidesheimer Hof“ zur Geburtsstätte ihrer Freundschaft machten. „Weck, Worscht, Woi“ sind aus dem Alltag eines Pfälzers nicht wegzudenken und wer wie Pöhlmann an die friedensstiftende Wirkung von Würsten glaubt, sollte darauf hoffen, dass Donald Trump vielleicht eines Tages doch die Wurzeln seiner Familie erkunden mag – im pfälzischen Kallstadt und damit an jenem Ort, an dem man Wettbewerbe ausschreibt, bei denen das Gewicht gefüllter Schweinemägen geschätzt werden muss. Ohne jedes Gramm zugunsten des Spaßes gleich auf die Goldwaage zu legen.

Und in Baden-Württemberg? „Nirgendwo sonst gibt es so viele Spezialbetriebe in Bereichen rund um die Wurst“, sagt Pöhlmann. Darunter etwa die Naturin-Werke in Weinheim, in denen der Chemiker Walter Becker 1925 die künstliche Wursthülle entwickelte – aus zerfasertem Leder und unter Verwendung von Leim. Seit 1962 wird hier der „Naturin-Eiweiß-Saitling“ produziert, eine essbare Collagen-Wursthülle. „Würde man die Jahresproduktion von Wursthüllen der Naturin-Werke aneinanderlegen, käme man auf eine unglaubliche Länge von mehr als zwei Milliarden Metern“, rechnete Pöhlmann aus. Das wären sechs Superwürste von Weinheim bis zum Mond. „Von den nicht ganz acht Milliarden Menschen dieser Welt könnte jeder pro Jahr etwa 25 Zentimeter an Würsten verspeisen, jede davon mit Naturin-Kunstdarm umhüllt.“ Alle Veganer und Säuglinge dieser Erde miteingerechnet.

Mannheim rühmt Pöhlmann übrigens weniger wegen seiner würfel- oder streifenförmigen Fleischprodukte, denn für seine wurstfreundlichen Kommunikationsdesigner: Fabian Bentz und Fabian Hensel etwa haben „Wurst App Your Life“ entwickelt, eine App mit Rezepten, Wurstgeschichten über Metzgereien der Region und einem Versand von Gewürzen – fürs Selberwursten. Im Blog www.wurstfriedhof.de und auf der Seite www.wurst-auf-rezept.de hat Frank Ensinger schräge Schönheiten zusammengestellt: Geburtstagstorten aus drapierten Wurstwaren, weihnachtliches Wurstgebäck mit Puderzucker und Leberwursttoasts Hawaii. Das mag zwar ungewohnt sein. Aber Hauptsache, es schmeckt.

Zum Weiterlesen und -schmecken

Das Buch von Wolfger Pöhlmann: „Es geht um die Wurst. Eine deutsche Kulturgeschichte“, 464 Seiten, Knaus Verlag, 26 Euro.

Bei seinen Recherchen ist Pöhlmann auch auf ungewöhnliche Vermarktungsideen in Sachen Wurst gestoßen. Metzger Claus Böbel aus Rittersbach bei Nürnberg etwa hat mit www.umdieWurst.de einen eigenen Versandhandel aufgebaut. Er vertreibt beispielsweise Wurstbonbons, Probiertüten mit Wurst oder Bratwurstgebäck.

Die größte begehbare Bratwurst entdeckte Pöhlmann in Thüringen: In Holzhausen gehört zur „Bratwurstwörld“ auch ein Museum und „Bratwursttheater“: www.bratwurstscheune.de. aki

Freie Autorin

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