Waldkirch. Seit vielen Jahren kennen Reisende, die auf Autobahnen unterwegs sind, die braunen Schilder, die auf Sehenswertes in der Nähe der nächsten Ausfahrt hinweisen. Vor Freiburg im Breisgau wird auf die "Orgelstadt Waldkirch" aufmerksam gemacht. Was verbirgt sich hinter diesem klangvollen Namen?
Am Ortseingang wird der Besucher von zwei riesigen Orgelwalzen (aus Granit) begrüßt, den weltweit größten. "Waldkirch ist die Stadt in Deutschland mit der höchsten Orgeldichte", erklärt Bernd Wintermantel stolz. Kein Wunder, wenn man weiß, dass in der gerade einmal 20 000 Einwohner zählenden Kleinstadt in gleich fünf Werkstätten Orgeln gebaut werden - und zwar sowohl Kirchen- als auch Drehorgeln. Darüber hinaus gibt es ein Planungsbüro für den Kirchenorgelbau, Vereine, Förderkreise und ein Museum, in dem es auch um den Orgelbau geht. "Und dann leben bei uns auch noch 70 Orgelspieler", freut sich Wolfgang Brommer, "wahrscheinlich mehr als in ganz Berlin", vermutet er.
Protagonisten der Szene
Im Dezember soll dem Orgelbau in Deutschland von der Unesco der Titel eines immateriellen Weltkulturerbes zugesprochen werden. "Deutschland ist das Land der Orgeln", erklärt Brommer. "Hier gibt es weltweit die meisten." Es sei ein typisch deutsches Kulturgut, deshalb wäre es nur folgerichtig, wenn es mit der Titelvergabe klappte.
Die beiden Herren sind Protagonisten der Waldkircher Orgelszene. Der eine ist Chef der weltweit agierenden Orgelbaufirma Brommer & Jäger, der andere Vorsitzender der Orgel-Stiftung. "Die hat dieselben Aufgaben wie ein Museum: Bewahren, Vermitteln und Forschen", erklärt Bernd Wintermantel. "Wir wollen Geschichte und Bedeutung der Orgel auf eine breitere Basis stellen." Es werden alte Instrumente gesammelt und im Orgelbauersaal ausgestellt, außerdem werden Führungen und Vorträge angeboten. "Vor Kurzem hat die Stiftung die alten Grabsteine verstorbener Orgelbauer vor dem Verfall gerettet und mit Infotafeln ausgestattet", nennt Wolfgang Brommer ein noch junges Beispiel für die Arbeit der Stiftung.
Exporte in alle Welt
Ganz aktuell ist die Initiative "Deutsche Orgelstraße". Zentrales Element ist die Homepage, auf der man sich durch die Republik klicken kann, zu Orgeln und Handwerkern, zu Museen und Konzerten. "Die Orgelstraße ist nicht theologisch ausgerichtet", betont Brommer, einer der Initiatoren, im Mittelpunkt stehe die Orgel, die Königin der Instrumente. "Die Drehorgel ist nur die Prinzessin", fügt er hinzu.
Aber warum sind die Orgeln in Waldkirch so prominent vertreten? Wie so oft ist der Grund in der Geschichte zu finden. Die Waldkircher Orgelbautradition reicht bis ins Jahr 1799 zurück. Seinerzeit verlegte ein Kirchenorgelbauer namens Mathias Martin seinen Betrieb nach Waldkirch. Einem seiner Mitarbeiter, Ignaz Blasius Bruder, blieb es aber vorbehalten, für den Aufschwung zu sorgen. Der Autodidakt spezialisierte sich auf den Bau mechanischer Musikinstrumente, vor allem Drehorgeln. Mit seinen fünf Söhnen schuf Bruder das erste Zentrum für die Herstellung dieser Instrumente. In der Folge exportierte der kleine Ort in die große, weite Welt.
"Man muss wissen, dass sich die Drehorgel im 19. Jahrhundert vom Instrument für das gut situierte Bürgertum zu einem Jahrmarktvergnügen für ein breites Publikum entwickelt hatte", informiert Dr. Evelyn Flögel. "Diese Instrumente führten zu einer Demokratisierung der Mu-sik", so die Direktorin des Waldkircher Elztalmuseums. "Man benötigte kein Geld mehr für teure Konzertkarten." Auf den großen Messen seien diese Instrumente echte Verkaufsschlager gewesen. "Und Ignaz Bruder hatte sein Handwerk regelrecht perfektioniert", erläutert Evelyn Flögel.
Rundfunk und Schallplatte machten den Waldkircher Unternehmen das Leben zusehends schwerer, bis 1937 die letzte Werkstatt für Drehorgeln schließen musste. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird ein Neuanfang gewagt, der in den späten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gleich mehrere Nachahmer findet. Einer davon ist Wolfram Stützle. Bei ihm kommen Geschichte und Gegenwart auf das Schönste zusammen. Seine Werkstatt atmet den Geist vergangener Zeiten. Alles ist aus Holz, es knarzt und knarrt. Im Hintergrund ist klassische Musik zu hören. Es ist die einzige historische Werkstatt, die in Waldkirch überlebt hat.
500 Stunden je Drehorgel
"Hier hat schon mein Urgroßvater, Anton Kiene, Kirchenorgeln gebaut", sagt Stützle. Auch er fertige nur diese Form der Orgel. Und, ja, es gebe tatsächlich Neubestellungen. "Der Trend entfernt sich seit einigen Jahren vom Historisierenden", meint der Experte. "Mein nächster Neubau ist eine so genannte Üb-Orgel, ein etwas kleineres Modell." Die meisten Aufträge sind jedoch Restaurierungen. Vor einigen Jahren hat Wolfram Stützle etwa die von seinem Urgroßvater gebaute Orgel in der Waldkircher Stadtkapelle erneuert. Auch durch die aktuellen Kirchenschließungen und die damit verbundenen Orgel-Umsetzungen würde häufig Arbeit anfallen - "fast wie nach der Säkularisation", formuliert der Orgelbauer.
In den 1950er Jahren seien sehr viele Orgeln gebaut worden, weiß Stützle, aber meist habe man nicht viel investiert. "Das hat zur Folge, dass der Restaurierungsbedarf sehr groß ist." Mal müssten die Pfeifen, die Windlade oder der Spieltisch erneuert werden, mal reiche es, die Lederbälge zu flicken. Bei der Arbeit mit Holz, die rund 80 Prozent der Tätigkeit ausmache, kämen keine Tropenhölzer mehr zum Einsatz, anders als früher. "Und wenn Tasten neu belegt werden müssen, verzichten wir auch auf Elfenbein und verwenden Buchsbaum", betont Wolfram Stützle. "Eine besondere Herausforderung ist die Nachfertigung von Teilen, die es nicht mehr gibt", ergänzt Achim Schneider. Der Orgelbauer, der Drehorgeln baut und mechanische Musikinstrumente restauriert, schätzt die Vielseitigkeit seines fast nur aus Handarbeit bestehenden Berufs. "Kein Mensch kann ein komplettes Handy bauen, ich aber eine Drehorgel", freut sich der Waldkircher. Dafür brauche er rund 500 Stunden. Schneider profitiert vom Ruf der Stadt und der Mund-zu-Mund-Propaganda. Gerade habe er einen Auftrag aus Schweden erhalten. "Natürlich, die Drehorgel ist europaweit bekannt", antwortet er. Früher sei sie in England trotz der Tatsache, dass sie nur 20 Tonstufen hatte, sogar als Kircheninstrument gespielt worden.
Der Orgelbauer räumt ein, dass das Interesse an diesem Instrument rückläufig sei. Um etwas dagegen zu tun, bietet er Kurse für Kindergärten und Schulen an. "Wir bauen dann eine Drehorgel als Gemeinschaftsprojekt." Meistens könne er selbst diejenigen begeistern, die zunächst die Nase gerümpft hätten über so "ein olles Instrument". Auch mit der Musikhochschule Freiburg kooperiert Achim Schneider, der noch eigenhändig Kartonnoten für die Orgel stanzen kann. Für die Neuvertonung des Stummfilms "Das Cabinet des Dr. Caligari" von 1920 durch Studenten hat der Waldkircher vor ein paar Jahren die Drehorgel-Passagen beigesteuert.
Jäger & Brommer, in deren Betrieb Schneider das Handwerk gelernt hat, sind in Sachen Orgelbau das Aushängeschild Waldkirchs. Ihre Kirchenorgeln werden auf allen Kontinenten gespielt, sogar in China, wo sie 2008 im Rahmen der Olympischen Spiele ein Instrument bauen konnten. Auch die Drehorgeln, meist im "Schausteller-Barock" ausgeführt, wie Wolfgang Brommer es ausdrückt, erfreuen das Publikum. Als Gründe für den Erfolg nennt der Firmenchef zum einen die Globalisierung und zum anderen sehe er "eine Nostalgiewelle, die seit rund zehn Jahren anhält".
Anspruch der Vorfahren
Brommer ist im Gegensatz zu seinem Kompagnon Heinz Jäger, einem Spezialisten für Intonation, für das Handwerk zuständig. Er betont, dass sich eine Orgel am besten im Team anfertigen lasse. Deshalb finden sich unter seinen 14 Mitarbeitern Metallpfeifen-, Spieltisch- und Windladenbauer. "Wir machen uns zwar auch moderne Elektronik zunutze", räumt Brommer ein, aber es gehe in erster Linie darum, dem Anspruch unserer Vorfahren gerecht zu werden. "Wir arbeiten dafür, dass die Tradition weiterlebt. Die Orgel ist nicht verstaubt oder von gestern, wie viele meinen, sie ist vielmehr das Instrument mit dem längsten Atem."
Wer mit den Orgelbauern von Waldkirch ins Gespräch kommt, wird schnell feststellen, mit wie viel Leidenschaft sie von ihrer Arbeit erzählen. Sie scheinen immer noch fasziniert zu sein von diesem außergewöhnlichen wie seltenen Handwerk. Eigentlich eine gute Voraussetzung dafür, dass es noch lange erhalten bleibt. (Ulrich Traub)
Immaterielles Erbe
Der Orgelbau und die Orgelmusik sind aus Deutschland für das immaterielle Kulturerbe nominiert. Über die Aufnahme entscheidet der zwischenstaatliche Ausschuss der Unesco auf seiner Tagung kommende Woche im südkoreanischen Jeju.
Nach Angaben der deutschen Unesco-Kommission gibt es insgesamt 35 Vorschläge aus aller Welt.
In Deutschland prägen 400 Orgelbaubetriebe mit etwa 2800 Mitarbeitern sowie 3500 hauptamtliche Organisten das Handwerk. dpa
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