Am Anfang der Laufbahn von Kathrin Yen stand ein kleines, graues Heft. Als Jugendliche fand die Österreicherin es in der Vorarlberger Landesbibliothek, "Archiv für Kriminologie" hieß es. Ihr Blick fiel auf ein Originalfoto von einem Leichenfundort. "Ich war abgeschreckt, aber auch fasziniert", erzählt sie. Danach begann sie, rechtsmedizinische Literatur zu lesen - noch bevor sie 1986 ihr Medizin-Studium begann.
Kathrin Yen sitzt an einem großen weißen Besprechungstisch in ihrem Büro im Heidelberger Stadtteil Bergheim. Seit 2011 ist sie Ärztliche Direktorin des Instituts für Rechtsmedizin und Verkehrsmedizin der Uniklinik. Die historischen Gebäude haben wenig mit den modernen Klinik-Bauten im Neuenheimer Feld gemeinsam. Durch die hohen Altbau-Fenster blickt man direkt auf den Neckar. Eine fast beschauliche Arbeitsumgebung für einen Beruf, der vielen einen Schauer über den Rücken jagt. Rechtsmediziner. Das klingt nach Bildern, die ein Mensch mit Normalnerven nicht zu Gesicht bekommen möchte.
Wer aber mit Kathrin Yen spricht, kann schnell nachvollziehen, warum sie ihr Arbeitsleben der Rechtsmedizin gewidmet hat. Für sie gehört der Tod zum Leben. "Auch ein toter Mensch hat noch seine Würde." Rechtsmediziner sollten keine Berührungsängste mit Leichen haben, auch nicht besonders geruchsempfindlich sein, erklärt sie. Vor allem aber brauchen sie "Liebe zum Menschen". "Das ist eine Grundvoraussetzung für jede medizinische Tätigkeit."
Kathrin Yens Dialekt verrät ihre österreichischen Wurzeln. Sie ist im Bundesland Vorarlberg aufgewachsen, in Innsbruck hat sie Humanmedizin studiert und nach Assistenzarzt-Stationen in Frankfurt und Bern ein Forschungsinstitut in Graz aufgebaut. Schon bei ihrem ersten Praktikum hatte sie das Fachgebiet fasziniert - auch wenn sie auf manches verzichten musste, was den Arzt-Beruf ausmacht. "Man muss sich als Rechtsmediziner bewusst davon trennen, Patienten zu behandeln", sagt Yen. Wenn ihre Zunft Leben rettet, dann nur indirekt. Aber sie kann Menschen etwas sehr Wichtiges verschaffen: Klarheit.
Yen geht zu ihrem Schreibtisch und zeigt am PC eine Computertomographie-Aufnahme: der Körper eines Menschen, der auf der Straße scheinbar von einem Auto überfahren wurde. Die Leiche stellte die Rechtsmediziner zunächst vor ein Rätsel. Lauter Knochenbrüche, aber keine Blutungen. Die Auflösung lieferte ein kleiner Punkt auf der Aufnahme: eine Tablette im Dünndarm. Die Person war bereits tot, als sie auf der Straße lag, sie war an Drogen gestorben. Für den Autofahrer machte diese Erkenntnis einen großen Unterschied.
Spuren von Gewalt
Kathrin Yen würde sich wünschen, dass in Deutschland mehr obduziert wird. Wenn ein Arzt einen Totenschein ausstellt und einen natürlichen Tod feststellt, ist der Fall in der Regel damit abgeschlossen. Dabei könne es sein, dass ein Rechtsmediziner Hinweise auf Fremdeinwirkung gefunden hätte, sagt die Professorin. "Es gibt Fälle, in denen es nur diskrete Zeichen auf einen unnatürlichen Tod gibt."
Nicht nur bei Toten bringt die Rechtsmedizin die Wahrheit ans Licht. Rund 250 Leichen werden pro Jahr am Heidelberger Institut obduziert. Aber im vergangenen Jahr untersuchten die Mediziner dort auch 400 Lebende. Die Gutachten von Rechtsmedizinern sind auch gefragt, wenn es um häusliche Gewalt oder Kindesmissbrauch geht. Kann eine Verletzung wirklich von einem Sturz kommen oder war Gewalt im Spiel? Ist eine Frau tatsächlich vergewaltigt worden? Auch bei diesen Fragen sollen die Fachleute Klarheit schaffen, Fakten ans Licht bringen, die in Gerichtsprozessen verwendet werden. "Damit tragen wir auch eine hohe Verantwortung", sagt Kathrin Yen. Dessen müsse man sich bewusst sein, wenn man in diesem Fachgebiet arbeitet. "Weil von unseren Gutachten Schicksale abhängen."
Sorgenfalten auf der Stirn
Offen und unvoreingenommen an Fälle heranzugehen, ist daher ein Gebot für Rechtsmediziner. Außerdem müssen sie ihre Befunde immer wieder selbst hinterfragen. Mit Sorgenfalten auf der Stirn müsse man arbeiten, hat ein früherer Chef von Kathrin Yen mal gesagt. Auch ein langes Konzentrationsvermögen ist wichtig. Mindestens zwei Stunden dauert die Obduktion einer Leiche, es können aber auch deutlich mehr werden. Jedes noch so kleine Detail kann wichtig sein.
Der Sektionssaal kann an diesem Tag nicht besichtigt werden - es wird gerade obduziert. Doch die Arbeit der Rechtsmediziner spielt sich ohnehin nicht nur dort ab. Egal ob bei Toten oder Lebenden: Immer wichtiger werden die sogenannten bildgebenden Verfahren, etwa Aufnahmen, die mit Hilfe eines Computertomographen gemacht werden.
Kathrin Yen legt einen runden Gegenstand auf den Tisch, auf den ersten Blick sieht er aus wie ein Glaskopf. Es handelt sich um das Abbild des Schädels eines Toten. Ein 3D-Drucker hat es aus transparentem Kunstharz mit Hilfe von Daten aus der Computertomographie hergestellt. Drei Löcher in der Schädeldecke zeigen, dass die Person durch Hammerschläge ums Leben kam. Den Medizinern helfen diese Methoden bei der Arbeit. Den Schädel müsste man ansonsten aufwendig von Gewebe befreien, um sich die Einschlaglöcher anzusehen. "Inzwischen wird von jedem Verstorbenen eine Computertomographie angefertigt", erklärt die Wissenschaftlerin. "Das liefert uns schon vor der Obduktion wichtige Daten."
Die Voraussetzungen für ihre Disziplin findet die Österreicherin in Heidelberg hervorragend. Es gebe eine enge Zusammenarbeit mit anderen Kliniken und Forschungseinrichtungen. Das Deutsche Krebsforschungszentrum etwa verfügt über einen sogenannten 7-Tesla-Magnetresonanztomographen. Eines von nur etwa 40 Geräten weltweit. Damit lassen sich auch kleinste Blutungen im Gehirn nachweisen, etwa nach einem Sturz oder Gewalteinwirkung. Noch sei es Zukunftsmusik: "Aber beispielsweise bei Unfalltoten könnte es sein, dass die bildgebenden Verfahren Obduktionen auf Dauer ersetzen."
Zukunftsaussichten für einen Beruf, der sich trotz der besonderen Anforderungen um seinen Nachwuchs in der Zukunft offenbar keine Sorgen zu machen braucht. Laut Kathrin Yen gibt es genügend Assistenzärzte, die sich für den Bereich interessieren. Das hat wohl auch mit der großen Präsenz in den Medien zu tun. Kein Krimi kommt ohne den Auftritt eines Rechtsmediziners aus, auch wenn das dort gezeigte Bild selten der Realität entspricht.
Dass ein Rechtsmediziner wie die Münsteraner "Tatort"-Figur Professor Boerne auf eigene Faust ermittelt, gebe es in der Wirklichkeit natürlich nicht, erzählt die Wissenschaftlerin. Außerdem arbeiten die Experten in der Realität stets im Team. Am Heidelberger Institut sind rund 50 Mitarbeiter beschäftigt, darunter neben Medizinern auch Toxikologen, Biologen und Physiker. "Kein Mensch würde alles so beherrschen, dass er einen Fall alleine lösen kann", berichtet sie.
Gibt es einen Fall, der der Ärztin besonders im Gedächtnis geblieben ist? Da gebe es einige, sagt Kathrin Yen. Zum Beispiel diesen, aus ihrer Zeit in der Schweiz: Ein Medizinstudent wurde vermisst. Seine Freundin meldete der Polizei, sie seien beide überfallen worden - die junge Frau hatte eine Schussverletzung, die auf den ersten Blick zu ihrer Geschichte passte. Bei der Untersuchung der Wunde kamen Kathrin Yen Zweifel. Es stellte sich heraus, dass die junge Frau ihren Freund hinterrücks erschossen hatte, seine Leiche fanden Polizisten vergraben vor einem Pferdestall. Die Schussverletzung hatte sich die Täterin selbst zugefügt. Kathrin Yen lacht. "Wie in einem schlechten Krimi."
Beruf, der an die Nieren geht
Ihren Humor hat sich die Professorin bewahrt. Abgestumpft ist sie aber nicht. Der Beruf kann an die Nieren gehen. Nicht so sehr die Obduktionen, die gehören für Rechtsmediziner zum täglichen Geschäft. Und es hilft offenbar, mit einem Auftrag an die Sache heranzugehen. "Man kann die Bilder einfacher ausblenden, wenn es darum geht, Fragen zu beantworten", sagt die Medizinerin.
Belastend sind dagegen die Fälle, in denen sie keine Antworten findet. Die Fälle, die ungelöst bleiben. Und dann sind da noch die jungen Verkehrstoten. Menschen, die in einer Sekunde Unaufmerksamkeit, in einem einzigen leichtsinnigen Moment aus dem Leben gerissen wurden. Auch sie beschäftigen Kathrin Yen besonders. "Weil man sich denkt, dass der Tod vermeidbar gewesen wäre."
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