Schnelle Strampler

Von 
Stefan Proetel
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Das Bild zeigt Kinder mit Kettcars der Firma Kettler aus den 60er Jahren (Handout). Im Minutentakt läuft ein neues Fahrzeug vom Band und verschwindet in einem Pappkarton. 400 Stück am Tag.

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Ein verregneter Nachmittag in einem April irgendwann Mitte der 70er. Fünf Rennautos stehen eng nebeneinander an der Startlinie, die Blicke ihrer Piloten kleben konzentriert auf dem nass-glänzenden Asphalt. Es ist der Moment, der als Foto eingefroren ist und einen Platz im Familienalbum gefunden hat. Natürlich: Das Bild entstand nicht auf dem Hockenheimring, und abgelichtet sind keine Formel-1-Boliden. Aber damals, beim Schwetzinger Spargelsamstag, hätte aus der Kettcar-Rennpremiere, die auf einem sensationell herausgefahrenen zweiten Platz endete, vielleicht doch eine vielversprechende Motorsportkarriere seinen Anfang nehmen können.

Sie wissen es längst: So kam es natürlich nicht, Motorsportgeschichte schrieben andere - und das ist auch ganz gut so. Kerpen wurde ein Begriff, weil von dort die Schumacher-Brüder kamen, später Heppenheim ("Vettelheim") als Heimatstadt des schnellen Sebastian. Doch immerhin: das Rennen, die rasenden Emotionen vor dem Start, der harte Positionskampf und der Endspurt auf der Zielgeraden - all das intensivierte die kindliche Liebe zu meinem Kettcar noch einmal um mehrere PS.

Der Weg in den Kindergarten, die Strecke zum Tante-Emma-Laden, Ausflüge am Sonntag (schön mit Hemd, Pullunder und brauner Cordhose am Lenker) - das Kettcar war ein treuer und flotter Begleiter, robust und respekteinflößend.

So geht es vielen Jungen (und ein paar Mädchen) damals. Mit glänzenden Augen stehen sie in den Spielwarenabteilungen vor den neuesten Modellen. Ihr Traumauto haben sie - ohne es zu wissen - der Idee des Unternehmers Heinz Kettler zu verdanken.

Harte Sitzschale

Das Jahr 1962: Der Gründer der gleichnamigen Firma, die Freizeitmöbel und Fahrräder herstellt, reist durch die USA. Irgendwo zwischen Ost- und Westküste soll er die Entdeckung, die später Firmengeschichte schreiben wird, gemacht haben: Er sieht einfach konstruierte Rennwagen für Kinder.

Wieder zu Hause am Firmensitz im sauerländischen Ense-Parsit lässt Kettler seine Beobachtungen und Vorstellungen Wirklichkeit werden. Noch im gleichen Jahr steht das erste Kettcar in den Schaufenstern der Kaufhäuser: ein nacktes, drahtiges Mobil mit harter Sitzschale, Hornlenker und vier dünnen Rädern. Nicht unbedingt der Metall und Plastik gewordene Traum eines heutigen Kindes, aber durchaus fahrtüchtig.

Fortan ging das Unternehmen ans Feintuning seines Prestigeobjekts. Von Modell zu Modell verbesserten sich Fahrkomfort, Handling und - nicht ganz unwichtig - das Aussehen. Schon Ende der 60er haben Kettcars alle wichtigen Ausstattungsmerkmale, die sie heute noch auszeichnen: Kettenantrieb, Lenkrad, den Bremshebel rechts und eine bunte Plastikverkleidung.

Heinz Kettler hat mit seiner Idee rasanten Erfolg: In den Boom-Jahren Ende der 90er bringt seine Firma 500 000 Modelle pro Jahr an den Knaben, heute sind es rund 200 000. "Das ist bei uns am Band wie in der Automobil-Industrie", sagt Werksleiter Ulrich Mayer. Er und seine Kollegen montieren in der Tat am laufenden Band: rund 400 Stück am Tag. Insgesamt wurden nach Unternehmensangaben in den vergangenen 50 Jahren 15 Millionen Stück verkauft. Kettler vertraut noch immer auf seine ganz besonders kritischen Testfahrer: Neue Modelle schickt die Firma regelmäßig in Kindergärten in der Nachbarschaft. Was dort durchfällt, schafft es niemals in Serienreife. Einen Flop leistete sich das Unternehmen aber doch: Das Elektro-Kettcar von 1989 ließen die Nachwuchs-Piloten gnadenlos links liegen. Fahren statt gefahren werden, treten statt Gas geben - so lethargisch, wie einige behaupten, war die Jugend damals wohl nicht.

Dass Kettcars auch heute noch im Einsatz sind, liest man mitunter in den vermischten Kurzenspalten der Tageszeitungen: 2005 etwa wollte sich ein Zehnjähriger aus Bayern auf den Weg zu seiner Oma in Berlin machen: bei Schneesturm, mitten in der Nacht - und auf einem Kettcar. Zwei Jahre später traten zwei Kettcar-Fahrer (9 und 12) aus Verl (NRW) in die Pedale. Sie wollten nach Dänemark und schafften es mit ihren Spielzeugboliden tatsächlich ins 30 Kilometer entfernte Bielefeld und von dort mit dem Zug weiter nach Hamburg. Und dann gab es noch den Brasilianer mit dem Künstlernamen Ze do Pedal. Mit 52 gewiss kein Knabe mehr, aber fit genug, um 2010 von Paris aus auf einem pedalgetriebenen Gokart zur Fußball-WM nach Südafrika zu strampeln.

Noch mal zurück in das Schwetzingen der 70er Jahre: Mein Kettcar bekam nach einem Familienausflug in den Odenwald Konkurrenz. Auf dem Weg nach Hause leitete mein Vater am Steuer unseres bordeauxroten Renault 12 im Birkenauer Tal ein äußerst scharfes Bremsmanöver ein. Ihm war nicht entgangen, dass rechts im Straßengraben ein Gokart lag, groß, schwer, in erbärmlichem Zustand, aber kein hoffnungsloser Fall.

Drei Wochen und viele Stunden im Keller später stand er da: schwarz-orange lackiert, schick und schnell. Und eines ist ja wohl hoffentlich klar: Mit dem hätte ich das Spargelsamstag-Rennen sogar rückwärts fahrend gewonnen. Und dann wäre aus Schwetzingen Proetelingen geworden.

Das Kettcar

Seit 1980 findet sich das Wort Kettcar (eine Schöpfung aus Kettler und dem englischen Car für Auto) im Duden.

Ehemalige Mitarbeit Ressortleiter Lokales/Regionales und Mitglied der Chefredaktion

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