Zeitreise

Vor 100 Jahren: Wie ein Sechsfach-Mord die bayrische Provinz erschüttert

Von 
Konstantin Groß
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Der Hof Hinterkaifeck: Tatort-Foto vom 5. April 1922. © Staatsarchiv München

Mannheim/Hinterkaifeck. Der Abend des 31. März 1922 ist stürmisch. Als die Nacht zu Ende ist, sind auf dem abgelegenen Bauernhof Hinterkaifeck 80 Kilometer nördlich von München sechs Menschen brutal ermordet. Noch heute spukt die Tat in den Köpfen der Leute vor Ort, bietet Stoff für Romane wie den Bestseller „Tannöd“, Filme, Dokus und Internetseiten. Auch und gerade im Vorfeld des 100. Jahrestages, an dem der Mörder noch immer unbekannt ist.

Zeitumstände und Örtlichkeit bilden den angemessenen Rahmen für diese schaurige Geschichte. Bayern 1922 – das ist noch nicht das Land zukunftsweisender Technologien, sondern bäuerlich geprägt, ja rückständig; in Hinterkaifeck etwa gibt es zu jener Zeit kein elektrisches Licht.

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Örtlichkeit: Hinterkaifeck ist nicht der Name eines Ortes, sondern eines ehemaligen Bauernhofes 500 Meter südwestlich vom Dorf Gröbern (heute Gemarkung Gemeinde Waidhofen).

Tatort: Der Hof bestand aus einem langen Wohn- und Stallgebäude, an das rechtwinklig eine Scheune angegliedert war. Er wurde 1923 abgerissen und ist heute Ackerfläche. Nach jedem Umpflügen tauchen jedoch noch Reste der Grundmauern auf.

Gedenken: Nahe dieser Stelle wurde ein Marterl errichtet. Der Baum direkt daneben besitzt fünf Kronen – so viele, wie die ermordete Familie Gruber-Gabriel Mitglieder zählte.

Grabstätte: Die Opfer sind in einem Familiengrab auf dem Friedhof von Waidhofen bestattet. Den Grabstein gestaltete ein Lehrling – mit einem Schreibfehler: „Hinterkeifeck“ mit „e“ statt „Hinterkaifeck“ mit „a“.

Führungen: Maria Weibl beschäftigt sich seit ihrem achten Lebensjahr mit der Thematik, kennt die Nachkommen aller Akteure von 1922 persönlich. Mit viel Engagement hält sie das Andenken an die Opfer wach – unter anderem in ihren ausgesprochen kenntnisreichen Führungen. Anfragen per Mail an: maria_weibl@gmx.de.

Internetseiten: www.hinterkaifeck. net; www.hinterkaifeck-mord.de.

Fernsehdokumentation: Herausragend bleibt der Beitrag von Kurt K. Hieber für das ZDF von 2009.

Belletristik: Bestseller „Tannöd“ von Andrea Maria Schenkel (2006). Sie versetzt die Handlung an einen anderen Ort (ins Dorf Tannöd bei Passau) und in eine andere Zeit (nach 1945).

Spielfilm: „Tannöd“ (2009) mit Julia Jentsch, Monica Bleibtreu und Volker Bruch. -tin

Der Hof liegt abgelegen entfernt vom nächsten Dorf. Bewirtschaftet wird er von Viktoria Gabriel sowie ihrem Vater Andreas Gruber und dessen Frau Cäzilia. Die Familie Gruber-Gabriel gilt als fleißig und wohlhabend, aber auch als geizig und verschlossen. Der Altbauer ist ein herrischer Typ. Kein Knecht, keine Magd, hält es hier lange aus.

Seit deren 16. Lebensjahr unterhält Gruber eine inzestuöse Beziehung zu seiner Tochter Viktoria – damals keineswegs selten auf dem Lande, aber gesellschaftlich verpönt und natürlich strafbar. 1915 wird er zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt, seine Tochter zu einem Monat.

Seine Tochter ist Witwe, seit ihr Mann Karl Gabriel 1914 im Ersten Weltkrieg gefallen ist. Aus dieser Ehe stammt die siebenjährige Cäzilia. Fünf Jahre nach Karl Gabriels Tod bringt Viktoria den Sohn Josef zur Welt. Nur sie weiß, wer der Vater ist.

„Der Teufel kam über sie“

Am Tag der Tat, Freitag, 31. März 1922, kommt eine neue Magd auf den Hof, um ihren Dienst anzutreten: Maria Baumgartner ist geh- und leicht geistig behindert und wird daher von ihrer Schwester Franziska begleitet. Als diese sich verabschiedet, fleht Maria, sie wieder mitzunehmen. Eine Vorahnung, wie man später sagen wird. Denn kurz darauf sei der Teufel über Hinterkaifeck gekommen, heißt es.

Fest steht: Am Abend begibt sich Viktoria Gabriel in die Scheune, wird dort zunächst gewürgt und dann erschlagen. Ihre Mutter macht sich Sorgen, wo ihre Tochter bleibt, folgt ihr und wird ebenfalls getötet. Als er von den beiden Frauen nichts hört, sorgt sich der Vater, macht sich ebenfalls auf und kommt gleichfalls zu Tode. Als Mutter, Oma und Opa nicht zurückkehren, bewegt sich instinktiv auch Tochter Cäzilia in diese Richtung – und erleidet das selbe Schicksal. Daraufhin begibt sich der Täter ins Haus, erschlägt die Magd und am Ende – besonders brutal – den kleinen Josef im Kinderwagen.

Am Tag darauf, Samstag, 1. April, kommen zwei Kaffeehändler vorbei. Sie sehen niemanden, hören niemanden und ziehen daher weiter. Zwei Tage später, Montag, 3. April, macht der Postbote Josef Mayer hier Halt. Auch er trifft niemanden an.

Geheimnisvolle Vorgänge

Am Dienstag, 4. April, kommt der Monteur Albert Hofner, um den Motor der Futterschneidemaschine zu reparieren. Auch er findet niemanden vor. Da er den weiten Weg nicht vergebens zurückgelegt haben will, macht er sich dennoch an die Arbeit. Als er nach vier Stunden den Heimweg antritt, sieht er den Hund der Familie vor dem Haus angeleint. Der ist vorher nicht zu sehen gewesen.

Das kommt Hofner seltsam vor. Er informiert den Ortsvorsteher Lorenz Schlittenbauer. Mit zwei Nachbarn macht der sich auf zum Hof. In der Scheune finden sie vier Leichen, im Haus die Magd und den kleinen Josef, beide ebenfalls tot.

Gästeführerin Maria Weibl findet vor Ort Überreste der Grundmauern. © Konstantin Groß

Am frühen Abend informiert die Polizeistation die Münchner Mordkommission. Die Hauptstadt ist 80 Kilometer entfernt, es dauert fünf Stunden, bis die Kripo vor Ort eintrifft. Da es auf dem Hof kein elektrisches Licht gibt, können die Ermittlungen erst am nächsten Morgen beginnen – fünf Tage nach der Tat. Vier Leichen werden aufeinander gestapelt in der Scheune gefunden, in einer Kammer die tote Magd, im Schlafzimmer der kleine Josef mit zertrümmerten Kopf. Sogar den Kripo-Beamten der Großstadt, die vieles gewohnt sind, stockt der Atem.

Die Ermittlungen sind aus heutiger Sicht abenteuerlich: Der Polizeifotograf macht nur ganze fünf Fotos, Fingerabdrücke werden nicht gesichert. Die Obduktion findet im Freien statt, vor dem Stall, durch Dr. Johann Baptist Aumüller, eigentlich Irrenarzt. Doch selbst der erkennt das Ausmaß des Schreckens: Die kleine Cäzilia war nicht sofort tot, sondern lebte noch zwei bis vier Stunden lang, riss sich im Todeskampf ganze Büschel von Haaren aus, die sich in ihren Händen finden.

Alle Köpfe werden abgetrennt und in die Gerichtsmedizin nach München verbracht. So werden nur die Torsi der Opfer eine Woche nach der Tat in Waidhofen beigesetzt. 3000 Menschen nehmen an der Beerdigung teil. „Der Herr gedenkt als Bluträcher ihrer“, postuliert der Grabstein. Doch die weltliche Gerechtigkeit bleibt aus – bis heute.

Grabstein für die sechs Mordopfer. © Konstantin Groß

Und dies, obwohl die Regierung von Oberbayern 100 000 Mark Belohnung aussetzt. Es folgen unzählige Verleumdungen und Denunziationen, nicht selten gespeist aus jahrzehntelangen Ortsfehden. Doch sie führen zu nichts. Alle am Ende 107 Verdächtigen sind bald wieder auf freiem Fuß. In ihrer Not greift die Polizei zu skurrilen Mitteln: Ein Beamter reist mit den abgetrennten Köpfen zu einer Hellseherin nach Nürnberg. Doch das Medium versagt.

Auf dem Hof in Hinterkaifeck will niemand mehr leben. Er wird abgerissen. Zwischen den Dielen des Scheunendaches, im sogenannten Fehlboden, wird die Tatwaffe gefunden, an der noch das Blut der Opfer klebt: eine Reuthaue, eine Art Axt.

Damit steht fest: Die Tatwaffe wurde nicht mitgebracht, sondern stammt vom Hof, ein Zufallswerkzeug, wie Kriminalisten sagen. Die Tat war also nicht geplant, wohl aber ihre Vertuschung. Der Mörder muss sich nach dem Verbrechen noch tagelang auf dem Hof aufgehalten haben. Denn die Kühe werden gemolken; sonst hätten sie spätestens am zweiten Tag laut geschrien.

© Grafik MM

Beim Motiv scheint klar: Es ist kein Raubmord. Zwar ist alles durchwühlt, doch Bargeld und Wertgegenstände sind noch vorhanden. Für eine Beziehungstat spricht auch der Umgang des Täters mit den Opfern: Ihre Leichen deckt er ab – die Toten in der Scheune mit einer Tür, die Magd mit einem Federbett, den kleinen Josef mit einem Rock seiner Mutter. Psychologen sprechen von „emotionaler Wiedergutmachung“. Dafür mag auch sprechen: Keines der Opfer weist Abwehrverletzungen auf, der Täter muss ihnen also bekannt gewesen sein. Oder überrascht er sie einfach nur?

Grabstein in Weiß

Letzte Vernehmungen erfolgen noch 1986, doch bis heute ist der Täter unbekannt. Bei Hobby-Ermittlern ganz oben auf der Liste der möglichen Verdächtigen steht Lorenz Schlittenbauer. Der Witwer hat ein Verhältnis mit der Jungbäuerin, erkennt 1919 die Vaterschaft für deren Sohn Josef an, widerruft sie jedoch, als er den Altbauern für den Vater hält. Ungeachtet mancher Indizien ergeben die Ermittlungen keine Beweise. Dennoch gilt er jahrzehntelang als „Mörder von Hinterkaifeck“. Bis zu seinem Tode 1941 wehrt er sich gegen diesen Vorwurf – ebenso wie seine Nachkommen. Als er stirbt, setzen sie ihm keinen schwarzen Grabstein, sondern einen in Weiß – der Farbe der Unschuld.

Als möglicher Täter gilt sogar Karl Gabriel. Diese Theorie besagt, dass er nicht 1914 gefallen, sondern nach Russland desertiert ist, bei seiner Rückkehr das inzestuöse Treiben seiner Frau entdeckt und die Familie auslöscht. Kriegsheimkehrer aus Russland berichten nach 1945, einem Mann begegnet zu sein, der sich als Karl Gabriel bezeichnet.

2007 rollen 15 Studenten der Polizeihochschule Fürstenfeldbruck den Fall für ihre Abschlussarbeit auf. Sechs Monate später kommen sie in ihrem 188-seitigen Bericht zu einem einstimmigen Ergebnis. Doch das bleibt geheim – weil naturgemäß der letzte Beweis fehlt. Vielleicht wird der Name des Täters anderweitig gelüftet: Die Legende besagt, er werde exakt zum 100. Jahrestag bekannt.

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