Zeitreise

Kaiser Wilhelm II.: Der gescheiterte Herrscher

Von 
Konstantin Groß
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Kaiser Wilhelm II., wie er sich selbst gerne sah: weitblickend und entschlussfreudig. In der Realität bleibt sein Name untrennbar mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 verbunden, der Ur-Katastrophe des europäischen Kontinents. © Archiv

Mannheim. Er ist wieder da. Nicht im Sinne des Gassenhauers „Wir wollen unsern alten Kaiser Willem wiederham“, der ohnehin seinem Großvater, dem Ersten Wilhelm, gewidmet ist. Nein, vielmehr als Objekt einer heftigen Debatte. Denn angesichts der jüngsten Forderung seiner Nachfahren nach Rückgabe oder Nutzung ihres früheren Eigentums stellt sich die Frage nach dem Wirken des vor 80 Jahren verstorbenen Wilhelms II., des letzten Deutschen Kaisers. Nicht nur für die Geschichtswissenschaft, sondern auch für die aktuelle Politik.

Dabei ist das Urteil der Historiker eigentlich eindeutig. Als Großer wird Wilhelm II. von niemand Ernstzunehmendem qualifiziert. „Gescheitert“ lautet die mehrheitliche Bewertung, die wohlwollende Begründung „angesichts der historischen Umstände überfordert“, „unfähig“ die deutlichere. Das Problem: In einem Staat, in dem er als Kaiser die alles entscheidende Figur ist, hat seine Persönlichkeitsstruktur Auswirkungen auf das Schicksal von Millionen Menschen. So kommt es denn auch.

Hochmütiger Charakter

Prägend für Wilhelms Leben wird bereits sein Start 1859: eine Steißgeburt, die damals nur zwei von zehn Kindern überleben. Auch ihn halten die Ärzte zunächst für tot. Er überlebt, doch mit Folgen: Der linke Arm bleibt auf ewig steif. In qualvollen Prozeduren mit mittelalterlichen Streckmaschinen oder eher modern mit Stromstößen wird versucht, den Arm zu richten. Vergebens.

Mutter Victoria, Tochter der gleichnamigen englischen Queen, verschmäht ihr lädiertes Kind: „Er verdirbt mir jede Freude und jeden Stolz, den ich an ihm haben sollte.“ Der Vater stirbt an Kehlkopfkrebs, nach nur 99 Tagen auf dem Thron. So wird Wilhelm mit 29 Jahren Herrscher über einen der mächtigsten Staaten der Erde. Doch der ungefestigte Twen verkündet: „Ich führe Euch herrlichen Zeiten entgegen.“

Er sei „nicht sehr geistig entwickelt“ und dennoch „hochmütig und von sich selbst eingenommen“, erkennt seine Mutter schon früh. Seine Selbstdarstellungsmanie wird bald zum Gespött Europas. Bis zu neun Mal pro Tag wechselt er die Uniform. „Täglich ist Maskenball“, notiert ein Höfling in sein Tagebuch. Exotisch auch sein Arbeitsplatz: ein Pferdesattel auf einem Holzgestell als Schreibtischstuhl. Denn, so seine Begründung, ein großes Reich muss „aus dem Sattel regiert werden.“

Jenes Reich, das er repräsentiert, zeigt zwei Gesichter: Technik und Wissenschaft sind führend in der Welt, Nobelpreisträger tragen deutsche Namen. Doch bei sozialer Ungleichheit herrscht ein Obrigkeitsdenken, das Heinrich Mann in seinem „Untertan“ so gekonnt verewigt. Genüsslich erlebbar wird dies in der Verfilmung von 1951, als besagter Untertan Diederich Heßling neben dem Wagen des Kaisers herrennt, immerzu „Hurra“ brüllend.

Überhaupt: die unerträgliche Militarisierung der Gesellschaft! Sogar Professoren zählen nichts, sofern sie keine Reserveoffiziere sind. Nur wer Uniform trägt, gilt etwas. Entlarvend der Schuster Wilhelm Voigt, der 1906 in Hauptmannsuniform vom Trödler das Rathaus von Köpenick besetzt. „So etwas gibt es eben nur in Preußen“, freut sich Wilhelm sogar.

Wilhelm II. (l.) 1913 mit seinen sechs Söhnen. © Stiftung Preußischer Kulturbesitz

Wie viele Herrscher, will er nicht (nur) gefürchtet, sondern auch geliebt werden. Den Kampf des greisen Reichskanzlers Bismarck gegen die Arbeiterschaft und ihre Sozialdemokratie mag er nicht fortführen, entlässt einfach den legendären Reichsgründer. Außenpolitisch regieren von nun an verbale Großmäuligkeit à la Donald Trump und – viel schlimmer – ein gefährliches Aufrüsten.

Zum Verhängnis wird ihm der Krieg. Die Bücher über seine Rolle in der Juli-Krise 1914 füllen Regale. Die Interpretation reicht von Fritz Fischers Kriegsschuldthese, die 1961 großes Aufsehen erregt, bis zum „Hineinschliddern“, das Christopher Clark 2012 in seinem Bestseller „Die Schlafwandler“ propagiert. Fest steht: Wilhelm, und nur er, kann Deutschlands Kriegseintritt verhindern. Niemand hat die Macht, Krieg zu führen, wenn er Nein sagt. Er sagt nicht Nein. Sieht sogar die Chance, das Volk zu einen: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Am Ende ist das Gegenteil der Fall. Am 29. Oktober 1918 weigern sich die Matrosen von Kiel, zu einem letzten Gefecht auszulaufen – ausgerechnet die Marine, die er so päppelt. Es ist der Startschuss zur Revolution. Am 9. November 1918 ist Deutschland eine Republik.

Am Tag darauf, 5 Uhr morgens, überquert Wilhelm zu Fuß die Grenze ins neutrale Holland – welch unwürdiger Abgang. Die niederländische Königin gewährt ihm Asyl. „Bei einem Prozess wären wir in eine äußerst peinliche Lage gekommen“, raunt Winston Churchill später: „Nicht ein einziges Kriegsgräuel ist vom Kaiser befohlen worden.“
Am Beginn seines Exils steht ein privater Schicksalsschlag: 1921 stirbt seine Frau, Auguste Viktoria. Einfältig-fromm, verwindet sie nie ihr Exil, der Freitod ihres Lieblingssohnes, Prinz Joachim, gibt ihr den Rest. In Abwesenheit des Kaisers wird sie in Potsdam beigesetzt – mit 200 000 Trauergästen eine machtvolle Demonstration der monarchistischen Kräfte. Doch gerade die treuesten unter ihnen stößt Wilhelm vor den Kopf, als er nur anderthalb Jahre später die 28 Jahre jüngere Hermine von Schoenaich-Carolath ehelicht.

Haus Doorn in den Niederlanden – Exil-Ort Wilhelms und heute Museum



Nach der Abdankung 1918 wohnte Wilhelm II. zunächst bei einem niederländischen Adeligen auf Schloss Amerongen. 1919 erwarb er für 1,5 Millionen Gulden Haus Doorn bei Utrecht und ließ es umbauen.

Zu seiner Einrichtung wurden ab 1919 in 59 Eisenbahnwaggons Möbel, Gemälde und Teppiche aus seinen bisherigen Schlössern in Berlin und Potsdam herangeschafft.

Bei Kriegsende 1945 zog der niederländische Staat das Areal als „Feindbesitz“ ein. 1953 wurde es einer Stiftung übertragen und zum Museum.

Die Räume sind in jenem Zustand, in dem sie beim Tode Wilhelms 1941 waren. Da viele Gegenstände aus den früheren Schlössern untergebracht werden mussten, wirken sie überladen. In den Kleiderschränken hängen viele Uniformen Wilhelms.

Ausgestellt sind auch Raritäten wie das Eisenstück, mit dem ein Bremer Werftarbeiter 1901 einen Anschlag auf Wilhelm verübte, von dem er eine Narbe an der linken Wange behielt.

Das Mausoleum, in dem Wilhelm begraben ist, befindet sich im Garten. Auch nach der Beschlagnahmung blieb es im Besitz der Hohenzollern, die bis heute den Zugang regeln.

Wilhelms Hündin „Senta“, die ihn 1907 bis 1927, also auch in der Zeit des Ersten Weltkriegs, begleitet hat, ist ebenfalls im Garten bestattet.

Besichtigungen sind wegen Corona erst ab 9. Juni möglich, dienstags bis sonntags 13 bis 17 Uhr, für 12 Euro.

Infos auf der Internetseite auch auf Deutsch: www.huisdoorn.nl/de

Film-Doku: „Majestät brauchen Sonne“ von Peter Schamoni, 1999, 120 Minuten – ein Meisterwerk! tin

Mit ihr zelebriert er im Exil in Doorn höfisches Leben. Immer noch wird er mit „Majestät“ angesprochen, versieht seine Unterschrift mit I. R. (Imperator Rex – Kaiser und König). Sein Hofstaat umfasst 50 Bedienstete. An Besucher verteilt er Autogrammkarten wie ein Filmstar. Zur Entspannung hackt er Holz, bis zu tausend Bäume fallen pro Jahr; bald ist der Park um Doorn kahl. Vieles wirkt skurril: Statt wie einst riesige Denkmäler wie die zur Völkerschlacht in Leipzig oder am Deutschen Eck in Koblenz einzuweihen, enthüllt er nun feierlich das Tor an der Einfahrt zu seinem Garten.

Wilhelm gibt Interviews, sogar auf Englisch, schreibt Bücher, in denen er die rechte „Dolchstoßlegende“ von der in der Heimat verratenen Armee mit höchsten Weihen versieht, äußert sich in Briefen antisemitisch: „Die hebräische Rasse ist mein Erzfeind“, verkündet er 1927.

Hass gegen Weimarer Republik

Verhasst ist ihm die „Saurepublik“ von Weimar. Als sein Generalfeldmarschall von Hindenburg 1925 bereit ist, ihr Reichspräsident zu werden, tobt er: „Der Lump hat sich auf meinen Thron gesetzt!“ Doch auch die Nazis, diese „Proleten“, sieht er skeptisch. Denen wiederum ist die von ihm repräsentierte Monokel-Kaste ein Graus. Nur anfangs umwerben sie ihn. Von Hermine eingefädelt, kommt Hermann Göring 1931 und 1932 nach Doorn. Doch nach der Machtergreifung 1933 wird Wilhelm nicht mehr gebraucht.

Sein Sohn, der Kronprinz, biedert sich dennoch an. Im Vorfeld der Reichspräsidentenwahl 1932 unterzeichnet er einen öffentlichen Aufruf für Hitler. Nach 1933 verteidigt er den „genialen Führer“ gegen ausländische Kritik an der Judenverfolgung. Der vierte Sohn des Kaisers, August Wilhelm, wird 1930 gar Mitglied der NSDAP und steigt in der SA bis zum Obergruppenführer auf.

In fremder Erde begraben

Den alten Mann in Doorn verführt erst der Sieg über das verhasste Frankreich, ihm selbst einst versagt, 1940 zu einer verhängnisvollen Geste: „Die Schmach von 1918 ist ausgelöscht“, gratuliert er dem Diktator.

Doch mit der Besetzung Hollands wird er de facto dessen Gefangener, von der SS bewacht, an Kontakten zu Wehrmachtsgenerälen gehindert, von denen einige ihn gerne als Oberhaupt einer Aufstandsregierung sähen. Er bleibt beim Holzhacken. Dabei bricht er 82-jährig zusammen.

Der Kaiser ist tot: Wilhelm II. Anfang Juni 1941 aufgebahrt in Doorn. © Archiv

Als man ihm am 3. Juni 1941 auf dem Sterbebett von der Eroberung Kretas durch die Wehrmacht berichtet, kommt ein letztes Lächeln auf: „Unsere herrlichen Truppen!“ Am Tag darauf ist er tot. Die Rückführung ins Reich ist testamentarisch ebenso verboten wie Hakenkreuze bei der Beisetzung in Doorn. Propagandaminister Joseph Goebbels rächt sich: „Die Todesnachricht ist in den Zeitungen nur mit einspaltigen Schlagzeilen auf der unteren Hälfte der ersten Seite zu veröffentlichen.“

Sein Sarg, so wünscht Wilhelm, soll nach Deutschland zurück, wenn dieses wieder eine Monarchie ist. Er wird wohl in Doorn bleiben müssen.

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