Eine Metropole als Kulisse

Die Film-Doku über Franz Kafka vergangene Woche war der Start eines Jahres, in dem die Kulturwelt seines 100. Todestages gedenkt. Wer sich dem großen Literaten und seinem Werk nähern will, der findet noch heute zahlreiche Spuren in seiner Heimatstadt Prag

Von 
Konstantin Groß
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Dienstag, 26. März 2024. RTL überträgt das Fußballspiel Deutschland-Niederlande. Gut elf Millionen Deutsche sitzen vor dem Bildschirm. Die ARD bietet zeitgleich die erste Staffel „Kafka“. Trotz der starken Konkurrenz schalten bis zu zwei Millionen Zuschauer die Filmbiografie über den Schriftsteller ein, am Tag darauf immerhin mehr als 1,3 Millionen.

Erstaunlich viele, nicht nur angesichts der populären Konkurrenz. Denn die Doku ist zwar brillant, aber auch schwere Kost – eben so wie Kafkas Werke, die man kennen muss, um den Film zu verstehen. Und dass Kafkas Werke schwer sind, das weiß, wer in seiner Schulzeit im Deutsch-Unterricht die „Verwandlung“ oder den „Prozess“ durcharbeiten muss.

Mit Thomas Mann gehört Kafka zu den Größen der deutschsprachigen Literatur jener Zeit, sein Werk zum Kanon der Weltliteratur. Dieses darzustellen und zu bewerten, das soll hier nicht der Platz sein, stattdessen ein Weg aufgezeigt werden, Kafka selbst kennenzulernen und damit auch sein Werk. Denn wie sagt schon Eichendorff, sein Schriftstellerkollege aus dem 19. Jahrhundert: „Wer einen Dichter recht verstehen will, muss seine Heimat kennen.“

Und gilt das nicht auch für sein Werk? Ist der Dom im „Prozess“ nicht der Sankt-Veits-Dom? Führt im letzten Kapitel der Weg von K. nicht von der Altstadt über die Karlsbrücke zur Kleinseite? Sind im „Urteil“ der Kai und die Moldau sowie ihr gegenüberliegendes Ufer von Bendemanns Fenster aus nicht genauso zu sehen wie von der Niklasstraße aus, wo die Familie Kafka 1912 wohnt? Auch wenn diese Orte in Kafkas Werken nicht genannt werden, so scheint Prag doch stets präsent.

Angehöriger einer „zweifachen Minderheit“

Prag. Zu Kafkas Jugend noch nicht die Hauptstadt eines tschechischen Staates, denn der entsteht erst 1918. Aber Zentrum Böhmens, das zum Kaiserreich Österreich-Ungarn gehört. Die Deutschsprachigen sitzen am Hebel der Macht, bei zunehmendem Unmut der tschechischen Bevölkerungsmehrheit. Als deutschsprachiger Jude gehört Kafka einer „zweifachen Minderheit“ an.

Die meisten Stätten von Kafkas Wirken existieren noch oder wieder. Denn Prag überlebt, anders als etwa Warschau, den Krieg. Der Ratgeber des Kafka-Museums umfasst 33 Kafka-Locations. Fast alle in der Altstadt, in engster Umgebung. „In diesem kleinen Kreis ist mein ganzes Leben eingeschlossen“, schreibt Kafka einst einem früheren Lehrer.

Beginnen wir mit dem Geburtsort. Ein Haus nahe der St. Nikolai-Kirche, als deren Prälatur 1730 erbaut, am Schnittpunkt zwischen Altstadt und jüdischem Ghetto, das damals noch existiert. Am 3. Juli 1883 erblickt Kafka hier das Licht der Welt, wie damals üblich in einer Hausgeburt. Eine Woche danach wird er gemäß jüdischem Ritus beschnitten.

Bis 1885 lebt die Familie hier. Einige Jahre nach ihrem Auszug brennt das Haus ab. Übrig bleiben das Portal und die Balkonbrüstung darüber, die in den Neubau integriert werden. Heute befindet sich hier ein Café, der Platz davor ist seit Mai 2000 nach Kafka benannt.

Von hier aus zieht die Familie acht Mal um, dem höheren Wohlstand entsprechend in immer größere Wohnungen, aber im gleichen Umfeld. Von 1889 bis 1896 wohnt sie unweit der Astronomischen Uhr im Haus „Zur Minute“. Zuletzt und am längsten, von 1913 bis zu seinem Tode 1924, lebt Kafka im Oppelt-Haus am Altstädter Ring – nach wie vor bei Eltern und Geschwistern.

Neben diesen, seinen Wohnsitzen sind auch die Stätten seines Wirkens noch vorhanden. So das Deutsche Gymnasium, das er von 1893 bis 1901 besucht. Oder die Universität, die älteste Mitteleuropas, wo er Jura studiert und den Dr. macht.

1908 beginnt er bei der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt für Böhmen. Hier arbeitet er, bis er 1922 wegen seiner Lungenkrankheit aufhören muss. Er verdient gut, 6500 Kronen, im Vergleich zu 1000 eines Arbeiters. Er ist Sachbearbeiter, muss vor Ort überprüfen, ob Firmen die Sicherheitsvorkehrungen einhalten. Und ob Geschädigte Anspruch auf Zahlung haben; in seinem Büro finden sich dazu die Invaliden ein, ab 1914 auch Kriegsversehrte. Kafka selbst wird auf Intervention seiner Vorgesetzten vom Frontdienst freigestellt – gegen seinen Willen.

Heute befindet sich hier das Hotel Mercure. In Vitrinen erinnert es natürlich gerne an jenen berühmten Zeitgenossen, der einst hier wirkt.

Viel Zeit verbringt Kafka in Kaffeehäusern wie dem 1902 eröffneten Café Louvre. Kaffeehäuser sind die Chat Rooms der Jahrhundertwende. Hier sitzt man stundenlang, oftmals, durchaus geduldet vom Ober, bei einem Glas Wasser. Gerade Kafka, der weder Alkohol noch Kaffee trinkt und auch nicht raucht. Hier trifft er sich mit Freunden, die man später als „Prager Kreis“ bezeichnen wird. Vor allem mit Max Brod, der seinen Nachlass veröffentlichen wird.

Apropos: Schreiben kann Kafka zu Hause nur schwer. Seine Tagebücher sind voller Klagen über das zu laute Geschnatter der Familie, störende Schritte der Dienstmädchen, Gelächter der Nachbarn. Früh beginnt er daher, nachts zu schreiben.

Besserung kommt 1916: Seine Schwester Ottla mietet für sich das Haus Nr. 22 im Goldenen Gässchen unterhalb der Burg, damals Gegend für ärmere Leute. „Haus“ ist denn auch ein großes Wort, steht eher für eine Kammer mit Dach, wie jeder erkennt, der es besichtigt. Der spätere Fassadenanstrich in leuchtendem Hellblau wirkt verunglückt. Auch wenn den Touristen das poppige Outfit zusagen mag, wird es dem historischen Charakter nicht gerecht.

Kafka wohnt zwar nicht hier, aber er nutzt die Ruhe der Abgelegenheit zum Schreiben. Nach seinem Dienst im Büro kommt er her, geht nachts wieder heim ins Oppelt-Haus.

1917 wird bei ihm Tuberkulose festgestellt. Er verbringt viel Zeit in Sanatorien, auch im Ausland, unter anderem am Gardasee. Am 3. Juni 1924 stirbt er in einem Sanatorium bei Wien, kurz vor seinem 41. Geburtstag. Begraben wird er auf dem Neuen Jüdischen Friedhof, unter einem schlichten weißen Grabstein.

Alle drei Schwestern kommen im Holocaust um

Dieser enthält auch die Namen von Vater und Mutter, die 1931 und 1934 sterben – friedlich, weil frühzeitig genug, wie man bitter formulieren muss. Denn seine drei Schwestern, an die eine separate Tafel erinnert, haben kein Grab: Elli und Valli werden 1942 im Vernichtungslager Chelmo ermordet; Ottla begleitet 1943 jüdische Kinder auf der Deportation von Theresienstadt nach Auschwitz, wo sie den Tod findet.

Die Verfolgung trifft auch Kafkas Freunde. Der Schauspieler Jizchak Löwy wird aus dem Warschauer Ghetto ins Vernichtungslager Treblinka deportiert und dort 1942 ermordet. Kafkas Freund Max Brod gelingt es am Abend vor der deutschen Besetzung Prags 1939, die Stadt mit dem letzten Zug zu verlassen und nach Palästina zu emigrieren. In einem Koffer rettet er Manuskripte und Briefe Kafkas; sie zu veröffentlichen, wird für ihn Lebensaufgabe bis zum eigenen Tode 1968 in Tel Aviv.

In der NS-Zeit ist Kafka als Jude verpönt, in der kommunistischen Tschechoslowakei wiederum als „dekadent“. Im Vorfeld des „Prager Frühlings“ von 1968 wird er rehabilitiert, an seinem Geburtsort eine Gedenktafel enthüllt. Sie zeigt Kafka im Seitenprofil, das auf keinem Foto existiert. Bildhauer Karel Hladik orientiert sich dabei an den Gesichtszügen von Kafkas Schwester Ottla.

Ein fast vier Meter hohes Denkmal steht zwischen Synagoge und Heilig-Geist-Kirche. „Heute begleichen wir“, bekennt Bürgermeister Pavel Bem bei der Einweihung 2003, „was wir unserer Geschichte bisher schuldig geblieben sind.“ Zu sehen ist Kafka, der auf den Schultern einer zweiten Person sitzt, die zwar keinen Kopf und keine Hände hat, dafür aber ein großes Loch in der Brust – kafkaesk eben. Ihm hätte es gefallen.

Mehr erfahren über Franz Kafka, sein Leben und sein Werk

Kafkas bekannteste Werke sind „Der Prozess“, „Die Verwandlung“, „Das Urteil“ und „Das Schloss“.

Einige davon, vor allem „Der Prozess“ und „Das Schloss“, sind unvollendet geblieben und in dieser Fassung nach Kafkas Tod (1924) veröffentlicht worden.

Diese Veröffentlichung geschah gegen Kafkas Willen. Kurz vor seinem Tode hatte er seinen Freund Max Brod gebeten, seine Briefe und Manuskripte zu vernichten. Brod tat dies nicht – und bewahrte damit der Welt einen literarischen Schatz.

Gesamtausgabe: „Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen“, S. Fischer Verlag, Taschenbuch, 400 Seiten.

Biografie: Standardwerk: die drei Bände von Reiner Stach, insgesamt 2000 Seiten, an denen er 18 Jahre lang geforscht und geschrieben hat.

Filme: Fernsehserie „Kafka“, sechs Folgen, zu sehen in ARD-Mediathek auf www.daserste.de/unterhaltung/serie/kafka/index.html; Kinofilm „Die Herrlichkeit des Lebens“, seit dem 14. März in deutschen Kinos.

Museum: Das 2006 gegründete Kafka-Museum in Prag liegt am Moldau-Ufer. Zu sehen sind Briefe, Originalmanuskripte und Erstausgaben seiner Bücher. Adresse: 118 00 Praha 1, Malá Strana, Cihelná 2b. Website auf Deutsch: kafkamuseum.cz/de/

Authentische Kafka-Locations: Geburtshaus (Námêsti Franze Kafky 5/27), Oppelt-Haus (Staromêstské nám. 5/934), Goldenes Gässchen 22 (Zlatá ulicka 22), Café Louvre (Národ-ní 20/116), Arbeitsplatz/Versicherung (Na Porící 7/1075), Jüd. Friedhof (Praha 3, Strasnice, Izraelská 1), Denkmal (Dusní/Vêzenská). -tin

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