Es ist alles kaputt, zerstört, verkohlt. Mannheim im Jahr 1700 existiert so gut wie nicht mehr. Während des von 1688 bis 1697 tobenden pfälzischen Erbfolgekriegs lässt König Ludwig XIV. seine Truppen unter General Ezéchiel de Mélac hemmungslos wüten, brandschatzen, plündern. Das Heidelberger Schloss, viele Städte der Region, die Festung Mannheim – alles in Trümmern.
Die Mannheimer geben nicht auf. Viele der gerade mal noch 500 Einwohner haben sich in die Neckargärten, den Bereich der heutigen Neckarstadt, geflüchtet. 1700 wollen sie ihre alte Stadt wieder aufbauen. In F 1 soll ihr Rathaus, das vor dem Krieg zugleich als Kaufhaus und Mehlwaage, Hauptwache und Gefängnis dient, wieder entstehen – neben dem Marktplatz, der sich schon seit der Stadt- und Festungsgründung 1607 in G 1 befindet.
Zu teure Maurer
Der Kurfürst Johann Wilhelm, der wegen der Zerstörungen in der Kurpfalz in Düsseldorf residiert, präferiert den Wiederaufbau nach alten Plänen. Die Mannheimer argumentieren aber, diese hätten „kein facon mehr“, seien also veraltet. Sie wünschen sich ein größeres Waag- und Lagerhaus, einen neuen Festsaal.
Drei verschiedene Pläne werden dem Kurfürsten vorgelegt, sogar Holzmodelle nach Düsseldorf gebracht und unterschiedliche barocke Baumeister in den Chroniken genannt: Anton Bailleux, Johann Jakob Rischer und Johann Jacob Haggemüller. Kurfürst Johann Wilhelm, aus der katholischen Neuburger Linie der Wittelsbacher stammend, will ohnehin keinen der ursprünglichen Pläne realisiert wissen und ordnet an, dass neben dem Rathaus als Zwillingsbau eine katholische Kirche zu entstehen hat – gewidmet dem Heiligen Sebastian, der schon seit 1496 als Patron einer Mannheimer Kirche benannt wird, also lange vor der Stadtgründung.
Vor dem Baubeginn muss aber der Schutt weg, den die Franzosen hinterlassen haben. Die Mannheimer Maurer verlangen dafür indes zu viel Geld, ist in einem im Marchivum aufbewahrten Ratsprotokoll vom 13. August 1700 zu lesen. Daher werden Tagelöhner beauftragt.
Am 17. September 1700 wird dann am Eck zur heutigen Breiten Straße der Grundstein gelegt, darin drei Münzen (ein kaiserlicher Taler, ein kurpfälzer Taler und ein kurpfälzischer Batzen) sowie eine Schrift, die dem Kurfürsten huldigt und hofft, dass der Stadt „innerliche Ruhe und Einigkeit erhalten werden möge – Im Namen der allerheiligsten Dreifaltigkeit. Amen“, heißt es darin.
Musik und Kanonen
Die Bauarbeiten kommen nur langsam in Gang, wie sich aus einem Ratsprotokoll vom Sommer 1701 und daran ablesen lässt, dass Handwerkerrechnungen erst ab Herbst 1701 bezahlt werden – für das „Kellergewölb“, wie es heißt. Dafür feiert man gerne: Für den Turm gibt es am 5. Oktober 1701 eine weitere Grundsteinlegung, diesmal mit Hofkanzler Franz Melchior von Wieser, der auf der Durchreise von Heidelberg nach Düsseldorf ist. Dazu seien die ganze Bürgerschaft „in schöner Ordnung rangiert“ erschienen, aber ebenso „niedere Standspersonen und des gemeinen Volks“, so das Ratsprotokoll, und das „unter Hörung lieblicher Music und fröhlicher Ausrufung: Vivat Kurfürst“, dazu drei Salven aus den Kanonen. Es gibt sogar eine – lateinisch beschriftete – silberne Grundsteinsmedaille.
Mit dem Kurfürsten entsteht weiter Schriftverkehr, wie das Gebäude genau auszusehen hat. Er genehmigt dem Stadtrat 1701 zwar, dass er den angefangenen Bau „nunmehro continuieren solle“. 1704 muss es eine Art Richtfest geben, denn Ratsprotokolle und Rechnungen erwähnen im November die „Vollendung des Dachstuhles“ und eine Zahlung an einen Bäcker „für abgeholte Weck, als die Zimmerleut den neuen Rathausbau aufgeschlagen und den Strauß aufgesteckt haben nach altem Brauch“. 1705 ist von „Oelfarb rot“ für den ersten Anstrich die Rede und am 26. Mai 1705 werden im neuen Ratssaal „die Ratsaffairen zum ersten Mal vorgenommen“, der Turm indes erst 1706 bis zum Dach, aber nicht komplett fertig.
Befehl vom Kurfürsten
Kurfürst Johann Wilhelm unterstützt weiter den dringenden Wunsch der Katholiken, die noch in R 2 mit lutherischen und reformierten Gläubigen provisorisch gemeinsam eine Holzkirche nutzen, nach einem eigenen Gotteshaus in F 1. Der Rat der Stadt leistet zwar hartnäckig hinhaltenden Widerstand und will den zweiten Gebäudeflügel lieber anders nutzen, aber am 25. November 1706 wird durch Weihbischof Beyweg aus Speyer der Grundstein zur Kirche gelegt und der Bauplatz geweiht, und am 17. März 1707 macht der Kurfürst dem Widerstand mit einem Befehl ein Ende. Die Bauarbeiten können beginnen.
Am 2. Juli 1709 ist Richtfest, am 12. Dezember des gleichen Jahres der erste Gottesdienst in der – noch nicht ganz fertiggestellten – Kirche und am 1. Mai 1710 ihre Weihe.
Altes Rathaus und untere Pfarrkirche St. Sebastian
Anschrift: F 1, 4 A, 68159 Mannheim.
Öffnungszeiten Kirche St. Sebastian: werktags von 9 bis ca. 19 Uhr geöffnet, sonntags wird die Kirche nach dem letzten Gottesdienst um ca. 13 Uhr geschlossen.
Gottesdienste: Ökumenisches Mittagsgebet Dienstag und Donnerstag 12.15 Uhr, Gebetskreis (Mittwoch 19 Uhr), Gottesdienste an den Markttagen Dienstag, Donnerstag und Samstag jeweils um 9 Uhr, Citymesse mittwochs 12.15 Uhr, Eucharistische Anbetung donnerstags nach dem Gottesdienst bis 12 Uhr.
Ostern: Karsamstag 11 Uhr Meditation zur Grabesruhe Gebet am Heiligen Grab, Ostersonntag 5.30 Uhr Feier der Heiligen Osternacht, 10 Uhr Festliche Eucharistiefeier, Ostermontag 9.50 Uhr City-Messe.
Glockenspiel: 1956 goss Friedrich Wilhelm Schilling ein 23-stimmiges Glockenspiel, das in der Turmlaterne untergebracht ist und täglich um 7.45, 11.45 und 17.45 Uhr spielt. Es besitzt sechs Rollen mit je sechs Liedern. Die Lochkarten wurden 2005 erneuert, das Glockenspiel 2012 gestimmt. Jede Rolle kommt einen Monat zum Einsatz und wird dann von Hand gewechselt. „Ein Jäger aus Kurpfalz“ erklingt – außer in der Weihnachtszeit – an jedem Tag.
Stadtgeschichte: Mehr zur Stadtgeschichte, multimedial und interaktiv erlebbar, im Marchivum im Ochsenpferchbunker dienstags und donnerstags bis sonntags 10 bis 18 Uhr, mittwochs 10 bis 20 Uhr, montags geschlossen außer Feiertage. pwr
Glocken werden erst 1720 und 1725 geliefert, für 1720 ist zudem ein neuer Anstrich aus den alten Schriften zu entnehmen. Ein gut sichtbarer Schriftzug verkündet nun, wozu dieser in der typischen Mannheimer Symmetrie – zwei Flügel mit zwei nahezu identischen siebenachsigen Fassaden und einem Turm in der Mitte – dienende Zwillingsbau dient: „Justitiae et Pietati“, also Gerechtigkeit und Frömmigkeit. Ein wenig Handel ist aber auch dabei: Die sogenannten Kramläden vor dem Kirchenflügel, die heute eine Schneiderei sowie an Markttagen einen Imbiss und ein Blumengeschäft beinhalten, sind seit 1737 nachgewiesen.
Die goldenen Lettern „Justitiae“ sowie die große Figur der Justitia des Bildhauers Heinrich Charrasky mit Schwert und Waage über dem Portal stehen für das Rathaus mit Räumen für Bürgermeister, Stadtschreiber, Rechnungsführer, Botenmeisterei. Aber laut einem Grundriss von 1758 sitzt hier auch das Stadtgericht, es gibt Zellen, Verhörzimmer und das „Armesünderstüblein“, wo die Delinquenten die letzten drei Tage bis zur Vollstreckung der Todesstrafe – die zeitweise auf dem Marktplatz vollzogen wird – verbringen.
Die Feuerspritze und Löschgerätschaften werden anfangs in F 1 aufbewahrt, und in die Wand zum Marktplatz hin sind – bis heute! – links neben dem Rathausportal zwei Eisenstäbe eingelassen. Es handelt sich um eine frühe Form einer Normung, nämlich die „Rheinische Elle“ (61 Zentimeter) und der „Rheinische Fuß“ (31,4 Zentimeter). Wer auf den Markt Ware der Länge nach verkauft hat, kann hier Maß nehmen.
Bis 1903 hält auf dem Turm der Feuerwächter Ausschau und gibt ein Hornsignal, wenn es brennt. Bis 1910, als der Umbau des Alten Kaufhauses in N 1 zum Rathaus abgeschlossen ist, sitzt die Verwaltung Mannheims in F 1. Auch danach beherbergt es noch wichtige Einrichtungen wie Gewerbegericht, Stadtschularzt und bis heute das Standesamt im Obergeschoss. Im Erdgeschoss ist bis zum Umzug nach H 4 in 1984 das Innenstadtrevier der Polizei, heute der Kommunale Ordnungsdienst. Kein Wunder, dass Atlanten, also zwei gigantische Kraft und Mut ausdrückende bärtige Männer, das Eingangsportal begrenzen und den Balkon halten.
Hochaltar verkauft
Ganz anders auf der westlichen Seite des Baus, der Frömmigkeit gewidmet. Hier sind es zwei zart-graziöse Engel mit Flügeln und dünnem Gewand, die den Balkon tragen. Über dem Balkon thront als Pendant zur Justitia die Pietas, die Kreuz und Weihrauchfass hält.
St. Sebastian ist die Kirche für das Volk – die meiste Zeit zumindest. Als Kurfürst Carl Philipp 1720 die Residenz der Kurpfalz von Heidelberg nach Mannheim verlegt und bis zur Fertigstellung des Schlosses im Palais Hillesheim in R 1 wohnt, nutzt er zunächst St. Sebastian als Hofkirche. Erst 1731 wird ja die Schlosskirche, 1738 bis 1760 die Jesuitenkirche als eigentliche Hofkirche erbaut. An einem Tag kommt der Kurfürst aber weiter nach St. Sebastian in den Gottesdienst, immer am 20. Januar – dem Fest des heiligen Sebastian.
Die dreischiffige Hallenkirche mit zwei Seitenschiffen erfährt eine äußert üppige barocke Ausstattung. Dazu zählt ein nach einem Entwurf des Hofbaumeisters Alessandro Galli da Bibiena vom berühmten Rokoko-Künstler Paul Egell geschaffener und von Kurfürst Carl Philipp um 1738 gestifteter prachtvoller Hochaltar aus Stuck und Stein, Marmor und Gold. Der gilt zwar lange als eines der Hauptwerke der deutschen christlichen Bildhauerkunst des 18. Jahrhunderts – er ist aber verschwunden.
Wappen entfernt
1875 wird er, was heute keiner mehr begreift, für 500 Mark an die königlich-preußische Kunstsammlung nach Berlin verkauft, wo er lange im Kunstgewerbemuseum steht und im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs zerstört wird. Vier Figuren und ein paar Fragmente bleiben übrig; sie sind heute im Barock-Saal im Berliner Bode-Museum zu sehen.
Auch das Gebäude in F 1 erhält im Zweiten Weltkrieg mehrere Treffer. Aber schon am 30. September 1945 gibt es wieder einen Eröffnungsgottesdienst in der notdürftig hergestellten Kirche, die 1952 bis 1954 komplett renoviert und künstlerisch neu ausgestaltet wird. Herzstück ist die vom Münchner Bildhauer Karl Bauer entworfene Monumentalplastik der Krönung Mariens aus farbig gefasstem Zirbelholz im Chorraum, während die prachtvollen barocken Seitenaltäre erhalten werden.
Das Nebeneinander der Stile ist nicht unumstritten. Die Kirche sei „durch magazinartige Anhäufung von Erzeugnissen künstlerischer Unkultur peinlich verwildert“, heißt es schon im Gutachten eines kirchlichen Restaurators zu einer Sanierung in den 1930er Jahren. 1973 und 1999 sowie 2009/2011 – im Vorfeld des Deutschen Katholikentages, der 2012 in Mannheim zu Gast ist – folgen weitere Sanierungen der Kirche.
Die Stadt baut nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Teil 1952 bis 1954 zunächst nicht originalgetreu auf, sondern schafft – die Breite Straße ist ja noch keine Fußgängerzone – auf der Ostseite Arkaden, damit Passanten hier besser durchkommen. Die herausgebrochenen Wände werden erst bei einer Sanierung Mitte der 1980er Jahre geschlossen und in ein Café verwandelt. Wieder angebracht wird da auch am Turm das große kurpfälzische Wappen mit weiß-blauen Rauten, Löwen und Kurhut. 1740 hatte es Alessandro Galli da Bibiena gemalt, aber nach dem Übergang der Kurpfalz an Baden 1803 hat man es 1810 entfernt.
Kuriose Regelung
2010/11 verschwindet es erneut bei der großen Sanierung der Fassade im Vorfeld des Katholikentags. Die dabei neben dem hellen Verputz für den Sandstein verwendete Farbe – Ochsenblutrot genannt – ist bei den Bürgern umstritten, kommt vielen viel zu kräftig vor. Aber sie entspricht der Farbe zur Kurfürstenzeit. Seither zieren wieder zwei Uhren den Glockenturm, eine davon – wie seit 18. April 1872, was damals eine Besonderheit ist – nachts beleuchtet: die untere an der Turmfassade.
Bei der Renovierung von Glockenstuhl, Läutwerk und Fassade kocht erneut ein seit der Ära der Kurfürsten schwelender Streit wieder hoch, der eigentlich seit 1908 auf Basis eines Vertrages entschieden ist: Danach gehört der 57 Meter hohe Turm der Stadt und das mächtige, vierstimmige und noch original erhaltene Barockgeläut gemeinsam politischer Gemeinde und Pfarrgemeinde, wobei die Unterhaltskosten zu teilen sind und Katholiken allein bestimmen, wann geläutet wird. Kurios, aber rechtlich so geregelt.
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