Berlin. Der Abend des 27. Februar 1933 ist kalt in Berlin. Eiskalt. Sechs Grad unter null, die Straßen sind verschneit und vereist. Es ist kurz nach 21 Uhr, als der Student Hans Flöser auf seinem Heimweg von einer Bibliothek den Reichstag passiert und das Klirren einer Scheibe hört. Er schreckt auf, sieht einen Mann das Gebäude emporklettern, alarmiert den patrouillierenden Wachtmeister Karl Buwert. 25 Minuten später steht das deutsche Parlament in Flammen.
Es ist eines der folgenschwersten Ereignisse der deutschen Geschichte. Eines, das Juristen und Historiker lange, ja bis heute bewegt. Im Mittelpunkt steht ein junger Holländer namens Marinus van der Lubbe. Vor 90 Jahren wird er hingerichtet.
Der Fall van der Lubbe: Aufarbeitung, Forschung, Gedenken
Juristische Aufarbeitung: 1967 hebt das Landgericht Berlin auf Antrag von van der Lubbes Bruder zwar das Todesurteil auf, wandelt es jedoch in eine achtjährige Gefängnisstrafe um (wegen der Brandstiftung). Dagegen erhebt der Bruder Einspruch. Doch sowohl das übergeordnete Kammergericht Berlin 1981 als auch der Bundesgerichtshof 1983 lehnen diesen ab. Erst 2008 gibt die Generalbundesanwaltschaft die komplette Aufhebung des Urteils von 1933 bekannt – auf Basis eines 1998 vom Bundestag beschlossenen Gesetzes, das NS-Unrechtsurteile aufhebt.
Historische Forschung: Nach dem Krieg herrscht die allgemeine Meinung, die Nazis hätten den Reichstag angesteckt – bis 1959 der Hobbyhistoriker Fritz Tobias im „Spiegel“ die Alleintäter-These propagiert. Allerdings beruft er sich zumeist auf Aussagen ehemaliger Gestapo-Beamter, die 1933 in der Sache ermittelt hatten und mit denen er auch persönlich Kontakt pflegt. Gleichwohl bekräftigt auf Basis von Tobias‘ Material 1964 der renommierte Historiker Hans Mommsen die Alleintäter-These, die auch deshalb bis heute von der Mehrzahl der Historiker vertreten wird.
Gegenthese: Der US-amerikanische Historiker Benjamin Carter Hett fasst 2016 in einem 633 starken Buch die neuesten Forschungsergebnisse zusammen. Darin sieht er „klare Beweise, dass SA-Männer den Reichstag in Brand gesetzt haben.“
Gedenkorte: Auf dem Südfriedhof Leipzig befindet sich das Grab van der Lubbes, in seiner Geburtsstadt Leiden ein Denkmal. An den Prozess erinnert das Museum im Gebäude des Reichsgerichts Leipzig, heute ist dort das Bundesverwaltungsgericht (www.bverwg.de/gebaeude). -tin
Geboren wird er 1909 in Leiden. Sein Vater, Trinker, verlässt die Familie, als der Junge sieben ist, er ist 13, als die Mutter stirbt, lebt bei einer älteren Schwester und deren Mann, macht eine Lehre als Maurer. Dabei bekommt er Kalk in die Augen; am Ende hat er nur noch 15 Prozent Sehkraft im linken und 20 im rechten.
„Aus den Erinnerungen der Menschen, die van der Lubbe kannten, ergibt sich das Bild eines heiligen Toren“, konstatiert der Historiker Benjamin Carter Hett: freundlich, bescheiden, hilfsbereit, vor allem gegenüber Kindern. Kurz tritt er der Kommunistischen Partei bei.
Am 30. Januar 1933 übernehmen die Nazis die Macht in Deutschland. Das will van der Lubbe sich ansehen. Am 18. Februar kommt er nach Berlin, übernachtet in Obdachlosenunterkünften. Am 25. Februar kauft er sich vier Päckchen Kohlenanzünder.
Am 27. Februar begibt er sich zum Reichstag. Kurz nach 21 Uhr klettert er auf einen Balkon, tritt das Glas der Tür ein, rennt mehrere Feuer legend durch das gesamte Gebäude bis in den Plenarsaal, der um 21.27 in Flammen steht. Von zwei Wachleuten wird er festgenommen, ohne jeden Versuch zu fliehen. Er gibt die Tat zu, betont, allein gehandelt zu haben. Dabei wird er auch bleiben.
Vorbereitete Verhaftungen
Noch in der Nacht und unerwartet schnell sind die NS-Größen Hitler, Göring und Goebbels vor Ort. Und sprechen sofort von kommunistischer Verschwörung. Mit vorbereiteten Listen werden noch in der Nacht Gegner verhaftet, vor allem Kommunisten. Ihr Fraktionschef Ernst Torgler stellt sich selbst den Behörden, „um auf diese Weise die niederträchtige Lüge vor der Weltöffentlichkeit zu entlarven.“ Am 9. März werden drei bulgarische Exil-Kommunisten verhaftet, mit denen sich van der Lubbe in einem Lokal am Potsdamer Platz getroffen haben soll, unter ihnen der frühere Abgeordnete Georgi Dimitroff.
Für die Nazis wäre es ein leichtes, die Verhafteten einfach verschwinden zu lassen. Doch sie entscheiden sich für einen öffentlichen Prozess. Sie wollen der Welt zeigen, dass die Kommunisten hinter dem Anschlag stecken. Und dass Deutschland nach wie vor ein Rechtsstaat sei. Mit beidem scheitern sie.
Der Prozess beginnt vor der damals höchsten juristischen Instanz, dem Reichsgericht in Leipzig. Als die Richter den Saal betreten, zeigen sie den Hitlergruß. Den Angeklagten werden Verteidiger zugeteilt, Nazis oder deren Sympathisanten. Dimitroff jedoch verteidigt sich zumeist selbst. Und das rhetorisch brillant. Bei der Zeugenaussage von Reichstagspräsident Hermann Göring am 4. November 1933 geht er die Nr. 2 des Dritten Reiches derart an, dass dieser die Beherrschung verliert: „Ich bin nicht hergekommen, um mich von Ihnen anklagen zu lassen!“
Van der Lubbe dagegen wirkt apathisch. Viele der 80 ausländischen Reporter glauben, er stehe unter Drogen. Dies soll der Mann sein, der den Reichstag angezündet hat? In der Beweisaufnahme bezeichnen es sämtliche Brandexperten als unmöglich, dass er die schweren Vorhänge sowie Möbel aus Eiche und Leder mit ein paar Kohleanzündern entflammt habe, und das in der kurzen Zeit, in der er im Plenarsaal ist, zehn Minuten. So stellt auch das Gericht in seinem Urteil fest, der Brand sei „von anderer Hand vorbereitet worden“. Dennoch folgt es dem Antrag der Anklage und verurteilt van der Lubbe wegen Hochverrats zum Tode. Der nimmt das Urteil wie bisher unbewegt zur Kenntnis.
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Torgler sprechen die Richter jedoch entgegen dem Antrag der Anklage frei, womit sie „im Kontext von 1933 ein gewisses Maß an Integrität offenbarten, ja sogar Mut“, wie Historiker Hett anerkennt. Der Freispruch der drei Bulgaren wird schon vom Staatsanwalt gefordert, so schwach sind die Beweise. Dimitroff und seine Genossen werden im Februar 1934 in die Sowjetunion ausgeflogen. Nach dem Kriege wird dieser der ausgesprochen brutale kommunistische Diktator Bulgariens.
Torgler bleibt trotz Freispruchs zwei Jahre in Haft, bis er unter Druck bereit ist, Propagandatexte für die Nazis zu verfassen; später ist er in der Grundstücksverwaltung im besetzten Polen tätig. 1945 wird er daher nicht wieder in die KPD aufgenommen; er stirbt 1963 in Hannover.
Am härtesten trifft es van der Lubbe. Er wird Opfer eines Justizmordes, nämlich des Verstoßes gegen das Gebot „Keine Strafe ohne Gesetz“. Zum Zeitpunkt der Tat 1933 steht weder auf Brandstiftung noch auf Hochverrat die Todesstrafe. Diese wird dafür erst danach eingeführt.
Am 9. Januar 1934 betritt der Gefängnisdirektor in Begleitung eines Pastors seine Zelle im Leipziger Gefängnis; die Ablehnung des Gnadengesuchs durch Reichspräsident von Hindenburg wird verlesen. „Ich danke Ihnen für Ihre Mitteilung“, sagt van der Lubbe nur. Am Morgen darauf wird er in den Gefängnishof geführt. „Der Verurteilte hatte eine gefasste Haltung“, heißt es im Hinrichtungsprotokoll. Das Fallbeil fällt. Um 7.28 Uhr ist van der Lubbe tot, drei Tage vor seinem 25. Geburtstag.
Die Familie will den Leichnam in seine Heimat überführen. Die Nazis lehnen ab – weil Drogen festgestellt werden könnten, wie Kritiker meinen. So wird er auf dem Südfriedhof Leipzig bestattet. Nur sein Stiefbruder und der holländische Konsul dürfen dabei sein (Eine Autopsie nach Exhumierung 2023 jedoch ergibt keine Rückstände von Drogen).
Viele Fragen offen
Doch damit ist die Sache nicht erledigt. Zweifel bleiben. Nicht an van der Lubbes Täterschaft, sondern an seiner Alleintäterschaft: Wie kann er wissen, dass abends just zwischen 21 und 22 Uhr kein Kontrollgang im Reichstag erfolgt? Wie kann sich ein zu 80 Prozent Blinder in diesem stockdunklen Riesengebäude mit seinem Gewirr von Gängen, Treppen und Zimmern orientieren? Wie in kurzer Zeit einen 650 Quadratmeter großen Plenarsaal entflammen?
„So müssen die Täter in Kreisen zu suchen sein, die durch ihre Tat ihrem Hass gegen das parlamentarische System Ausdruck verleihen wollen“, mutmaßt die SPD-Zeitung „Vorwärts“ schon 1933. Schriftsteller Alfred Döblin bringt es auf den Punkt: „Man muss cui bono fragen“.
Diskutiert wird seither eine Verantwortung von Göring oder Goebbels oder eine eigenmächtige Aktion der SA, um damit ihren schwindenden parteiinternen Einfluss zu sichern. Ein Zeuge berichtet von Uniformierten im Tunnel zwischen Reichstag und Palais des Reichstagspräsidenten, also Göring; ein anderer sieht, wie der NS-Abgeordnete Albrecht am Tatabend das Gebäude verlässt. Ein SA-Mann, der sich am 21. Oktober bei den Justizbehörden meldet, er wisse mehr über den Brand, ist kurz darauf ermordet. Das alles bleibt 1933 unter der Decke.
Nur eines ist klar: Der Reichstagsbrand dient den Nazis als Vorwand, die Diktatur zu vollenden. Mit der „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ werden bereits am Tag darauf die Grundrechte aufgehoben. So wird das brennende Parlament zum Menetekel: „Zuerst brannte der Reichstag“, schreibt der Berliner Publizist Walter Kiaulehn später, „dann brannten Bücher und bald die Synagogen. Darauf begann Deutschland zu brennen.“ Und ganz Europa.
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