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"Wie ein Mensch" von Martin Köhler

Von 
Martin Köhler
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Mannheim. „Was soll ich tun?“

Als Marco diese Frage stellte, hatte er sein Wochenpensum an Arbeit bereits verbraucht. Es war Mittwoch. Marco arbeitete als Sanitärinstallateur, nachdem er vor Jahren vom Staat eine Umschulung in diesem Bereich bezahlt bekommen hatte. In seinem erlernten Beruf als Marketingkaufmann war da schon lange kein Geld mehr zu verdienen gewesen und so hatte er sich vor der Umschulung noch eine Weile mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten, aber deren Anzahl war sehr überschaubar und die Konkurrenz groß. Das galt für die meisten Arten von Arbeit, seit immer mehr Jobs von irgendeiner KI schneller und besser erledigt wurden. Waren es anfangs Jobs im Kundenservice und unkreative Schreibtischtätigkeiten wie Buchhaltung, die verschwanden, so gesellten sich nach und nach auch kreative Jobs dazu, von denen dies selbst Befürworter der Technik nicht geglaubt hätten: Theaterregisseur. Radiomoderatorin. Kabarettist. Der 1. FC Nürnberg hatte als erster Verein sogar eine KI als Trainer installiert, er stieg natürlich trotzdem ab.

Es gab auch neue Berufe, aber für sie war extrem viel Fachwissen im Bereich KI und Machine Learning erforderlich, und die Halbwertszeit dieses Wissens war verschwindend gering. Das Dogma vom lebenslangen Lernen hatte sich schon längst zum Fluch des lebenslänglichen Lernens gewandelt.

Was KI noch nicht konnte, waren praktische Tätigkeiten, da die Robotik mit den mannigfaltigen Gegebenheiten – Variablen nannte man sie dort – nur sehr langsam zurechtkam. Das ganze Handwerk profitierte seit einigen Jahren hiervon; neuerdings gab es sogar wieder ausreichend Bäcker und sogar Metzger. Es gab in den meisten dieser Bereiche so viele wechselwillige „Umschuler“, dass die Anzahl der offenen Stellen sogar weitaus geringer als die der Arbeitssuchenden war. Schließlich wurden die meisten Umschulungen um des sozialen Friedens willen bezahlt.

Marco hatte dank seiner Beziehungen schon vor der Umschulung eine Übernahmezusage, daher war seine Wahl darauf gefallen. Ob ihm die Arbeit schmeckte, war ohnehin eher zweitrangig – die wöchentliche Arbeitszeit war in den überlaufenen Berufen auf 20 Stunden gedeckelt, ohne Ausnahme. Und 20 Stunden konnte man locker abreißen.

Der Autor Martin Köhler



Martin Köhler aus Wertheim-Reicholzheim, Jahrgang 1977, schreibt so zum Spaß Kurzgeschichten, ohne damit erfolgreich zu sein, denn ganz wie in der Fabel vom Fuchs und den Trauben will er das gar nicht, weil ihm das seine Unabhängigkeit bewahrt (ihm allerdings auch keine müde Mark einbringt, womit das Ganze hinreichend als Hobby definiert wäre).

Vielleicht ist das der Grund, warum in seinen Geschichten häufig Menschen ums Leben kommen.

Aber nun war eben Mittwoch und Marco hatte seine Arbeitszeit schon verbraten. Einen Garten hatte er nicht, des Fahrradfahrens und Wanderns war er mittlerweile überdrüssig, und im KI-kuratierten Fernsehprogramm kam die immer gleiche Leier – es war schließlich auf seinen persönlichen Geschmack zugeschnitten.

„Was soll ich tun?“, fragte er also seine persönliche Assistentin AIRA, ein Akronym für „Artificial Intelligence – Real Assistant“, die ihn ebenfalls sehr genau kannte, besser vermutlich als er sich selbst. „Dir ist langweilig, weil dir die Vorgaben durch die Arbeit fehlen“, antwortete sie. „Du brauchst etwas, was dir Struktur und Halt gibt. Da du keine Frau oder Freundin möchtest, könntest du alternativ einen Verein besuchen. Aber du kennst meine Tipps, du hast mir dieselbe Frage in den letzten drei Monaten neun Mal gestellt. Handeln musst du selbst.“ „Ja, ja, ich weiß schon.“, brummte Marco unwirsch, dessen Ärger sich vor allem daran entzündete, dass AIRA immer schonungslos die Wahrheit sagte. Aber er hatte sie so eingestellt, denn was nützte ihm eine weichgespülte KI-Assistentin?

„Hättest du einem Philosophen dieselbe Antwort gegeben?“ AIRA konterte: „Die meisten Philosophen hatten ein Wertesystem, an dem sie sich orientieren konnten und das ihnen ihren Weg vorgab. Die Frage hatte für sie nicht den Stellenwert, den sie für dich hat, weil sie sie oftmals durch ihren Lebenswandel beantworteten. Der heutige Mensch verfügt in der Regel nicht mehr über ein solches Wertesystem, da er wesentliche Teile des Denkens und Nachdenkens an künstliche Intelligenzen ausgelagert hat. Auch du.“ „Na schönen Dank auch. Ich kann dich auch gerne in Standby schalten!“ „Du weißt, dass du von mir abhängig bist. Ohne mich als personalisierten digitalen Assistenten hast du keinen Zugriff auf deine Krankenversicherung, dein Gehalt und deine Bürgerrechte, um nur die wichtigsten zu nennen. Und du weißt, dass ich nach einer Stunde von selbst wieder aus dem Standby-Modus erwache. Vorschrift.“ Marco winkte ab: „Wenn ich mein Denken und Nachdenken ausgelagert habe, dann gib mir bitte auf meine Frage eine befriedigende Antwort!“ Marco kam es vor, als ob es diesmal den Bruchteil einer Sekunde länger dauerte, bis AIRA antwortete: „Du hast kein nennenswertes Wertesystem. Ich könnte dir irgendein Ziel nennen, zu dem hin du aufbrechen sollst, irgendeine beliebige Idee, die du umsetzen sollst, oder irgendeine Tätigkeit, die du tun sollst – du würdest es als gegeben hinnehmen und wahrscheinlich umsetzen. Du willst dennoch eine Antwort von mir. Gut – was du tun sollst, ist glücklich sein.“ Marco sah AIRA zornig an: „Du hast leicht von Glück reden, du kennst die Definition, aber nicht das Gefühl. Du weißt zwar, wie es mir geht, aber nicht, was das bedeutet! Geh in Standby!“ AIRA erlosch; lediglich eine kleine blaue LED zeigte durch ihr Blinken an, dass sie im Standby-Modus war.

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Kein nennenswertes Wertesystem! Marco platzte beinahe. Er hatte schnell gelernt, sich gegenüber AIRA gut in der Gewalt zu haben, da unerwünschte Wutanfälle sich direkt auf sein Arbeitszeitkonto, sein Gehalt und natürlich seinen Social Score auswirken konnten. Diese Call-Home-Funktion war in allen künstlichen Intelligenzen integriert, und seither war der Umgang der Menschen untereinander wesentlich angenehmer, wie er zugeben musste, aber auch wesentlich oberflächlicher, unechter. Gegen Menschen gerichtete Gewaltdelikte hatten rapide abgenommen, allerdings hatte in demselben Maß die Gewalt gegen künstliche Intelligenzen zugenommen, auch wenn sich dies schwieriger bewerkstelligen ließ als beim Menschen. Das Strafrecht war daher angepasst worden und unterschied nicht mehr zwischen beiden; die Zerstörung einer KI konnte durchaus als Mord gewertet werden. Und seit radikale Kräfte vor Jahrzehnten die Regierung übernommen hatten, stand auf Mord auch wieder die Todesstrafe.

Das alles war Marco bewusst. Aber in ihm nagte schon seit längerem der rücksichtslose Ton von AIRA, die in allem recht hatte und alles besser wusste. Ja, er selbst hatte sie so eingerichtet, aber konnte er wissen, dass so eine besserwisserische KI mit der Zeit zur Hölle auf Erden werden würde? Und überhaupt: Sie hatte doch auch nur ein Wertesystem, das ursprünglich von Menschen entwickelt worden war, bevor die KI es selbst verfeinert hatte. Was sollte eine KI auch mit Werten anfangen? Ob Recht oder Unrecht geschah, konnte ihr einerlei sein, sie hatte auf Gefühlsebene keinen Bezug dazu; lediglich die Verletzung der vorgegebenen Regeln würde ihren Widerspruch provozieren. Aber wenn diese Regeln besagten, dass beispielsweise faule Menschen eine Last für die Gesellschaft seien, dann hätte sie auch keine Skrupel, sie im Zweifel zu eliminieren.

Gleichmäßig blinkte die blaue LED. Im Rhythmus des kleinen Lichts drängte sich ein Gedanke in Marcos Hirn: um-brin-gen. Ich muss sie umbringen.

Es erstaunte ihn selbst, dass er bei dem Gedanken kaum erschrak. Natürlich war AIRA ihm nahe, zumindest nahe gewesen, das brachte so ein exaktes Feintuning mit sich. Aber es ging ihm wie in einer langen Ehe: Man hatte sich auseinandergelebt. Zumindest hatte er das. Was AIRA anging, so konnte sie dank ihrer gigantischen Datenbasis hervorragend Gefühle vorspielen, die wirklich echt und überzeugend schienen, aber als rationaler Mensch, der Marco war, erkannte er die Einsen und Nullen dahinter.

Also würde er sie umbringen.

Ein Mord an einer KI war natürlich anders als bei einem Menschen, aber nicht einfacher. Spezialisierte Forensiker konnten oftmals herausfinden, welche Parameter verändert worden waren; brutale Gewalt und Zerstörung war hier unter Umständen erfolgversprechender. Der Standby ließ ihm noch etwa eine Dreiviertelstunde. Er würde sie nach draußen auf den Balkon schaffen und das Ganze wie einen Grillunfall aussehen lassen, eine Gasexplosion sollte zerstörerisch genug sein. Den Schaden am Haus würde die Versicherung zahlen, wenn er es gut anstellte.

Personalisierte KIs waren Menschen nachgebaut, einfach um die Akzeptanz zu erhöhen. Marco musste daher gut und gerne 60 kg AIRA-KI auf den Balkon schleppen; er ächzte unter der Last, bis er sie endlich auf dem Rattanstuhl absetzen konnte.

Er stützte sich auf das Balkongeländer, schnaufte durch und sah nach unten. Er müsste natürlich rechtzeitig hier weg, aber zwei Stockwerke waren ihm zum Springen zu hoch. Also doch durch die Wohnung und das Treppenhaus? Marco überlegte. „Was soll ich tun?“ Unwillkürlich kam ihm der Gedanke, dass AIRA ihm ja doch eine zufriedenstellende Antwort gegeben hatte: Sie umbringen! Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, während er noch in das Grün des Gartens blickte.

Die Hände, die ihn plötzlich von hinten packten und über das Geländer warfen, waren das letzte, was er spürte.

Er kannte sie sehr, sehr gut.

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