Schauspiel - Das Junge Nationaltheater und das Schauspiel begeistern mit Daniel Cremers „CHRRRRSCHHHHHH – In den Wald!“

Wie am Nationaltheater Wildschweine Street-Dance tanzen

Von 
Martin Vögele
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Schließen letztlich Freundschaft im Walde (v.l.): der Rabe (Rocco Brück), „R.O.B.O.“ (Sophie Arbeiter) und die „Glühvyrm-Dame“ (Patricija Katica Bronic). © Christian Kleiner

Mannheim. „Wo kommt das alles her? Das gehört in die Tonne, nicht in den Wald!“, krächzt der Rabe in flatterigem Furor. Er ist ziemlich aufgebracht, und man versteht auch gut, warum: ein Plastikberg, eine Radkappe, ein Eimer mit Mayonnaise – all das liegt da als Hinterlassenschaft der menschlichen Zivilisation am Rand des schwindenden Waldes. Aber dieses Mal birgt der Unrat auch eine Überraschung, ein nach menschlichem Vorbild geschaffener Roboter regt sich darin, erwacht zum Leben, hilft beim Mülleinsammeln und sagt: „Ich bin dein Freund“, was den Raben, der keine Freunde hat, reichlich aus der Fassung stolpern lässt.

Das bald lautstark (mit Ghettoblaster auf der Schulter) anrückende Wildschwein-Duo hat indes, bei allen Vorbehalten gegenüber den Verursachern, ein anderes Verhältnis zum Müll: Die Zwei nutzen ihn, um Kunst zu machen (und sie lieben Fast Food!). Jetzt wollen sie den Teil-defekten Roboter – der sich abschaltet, wenn er zu viele Informationen erhält – als Skulptur-Material mitnehmen.

„CHRRRRSCHHHHHH – In den Wald!“, das neue Familienstück von Jungem Nationaltheater und Schauspiel am Nationaltheater Mannheim, ist, kurz vorgefasst, eine wunderbare Geschichte über Freundschaft und Liebe und darüber, was möglich ist, wenn man sich gegenseitig hilft. Es beginnt mit einem Kiefernzapfen, den man sich am Eingang zur Premiere im Schauspielhaus aus einem Korb nehmen kann. Gespielt wird dort zunächst auf der Vorbühne, wo wir dem Raben (Rocco Brück), den Wildschweinen Kyla (Sarah Zastrau) und Bacho (Eddie Irle) und der „Service-Einheit R.O.B.O.“ (Sophie Arbeiter) vorgestellt werden, bevor es weiter in den tiefen Wald hinein geht, der von wahrhaft zauberhafter Natur ist und wo wir auch die Glühvyrm-Dame (Patricija Katica Bronic) besser kennenlernen, die man zuvor schon schemenhaft durch den Hintergrund geistern sah.

Alles zu „CHRRRRSCHHHHHH – In den Wald!“

Das Stück: „CHRRRRSCHHHHHH – In den Wald!“, das „Familienstück von Daniel Cremer & Gäng“, ist eine Koproduktion des Schauspiels am Mannheimer Nationaltheaters (NTM) mit dem Jungen NTM. Die Wald-Revue mit Musik von Fernando Derks Bustamante richtet sich an ein Publikum ab acht Jahren.

Die 14 Vorstellungen: am 15., 16., 19., und 21. November sowie am 7., 8., 12., 14., 15, 16., 19., 21., 22. und 26. Dezember im NTM-Schauspielhaus.

Der Regisseur: Der Regisseur und Allroundkünstler Daniel Cremer, Jahrgang 1983, hat am Mannheimer Nationaltheater bereits die Zoom-Performance „Ecstatic Mozart“ und die Instagram Live-Performance „Fräulein Else“ nach der gleichnamigen Monolog-Novelle von Arthur Schnitzler inszeniert. Im Jahr 2015 war Daniel Cremer für sein „Talking Straight Festival“, das auch beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens zu sehen war, mit dem Preis der Autoren der Frankfurter Autorenstiftung ausgezeichnet worden.

Info/Karten: 0621/1680 150 und unter nationaltheater-mannheim.de

Als wäre ein Manga-Meister dabei

Nicht nur sie, es funkelt Vieles in und an dem von Regisseur Daniel Cremer inszenierten Stück. Das fängt bei den famosen Kostümen an und endet nicht bei den plastisch ausgeformten und vom Ensemble fabelhaft ins Bühnenleben gesetzten Figuren. Die Wildschweine sind, man kann es nicht anders sagen: veritable Rampensäue, voller breitschultriger Energie, aber zugleich mit empfindsamen Herzen ausgestattet. Beim Wett-Tanzen mit dem Raben bestechen sie mit stattlichen Street-Dance-Qualitäten, während sich der Vogel (zu Alice Coopers „Poison“) eher dem Glam Rock zugeneigt zeigt.

Der Roboter sieht schlichtweg toll aus, als hätte ihn ein Manga-Meister wie Masamune Shirow erdacht – Sophie Arbeiter entzückt und berührt in dieser Rolle, spricht in frappierend überzeugender Künstliche-Intelligenz-Art und flankiert jede Bewegung mit pneumatischem Zischen. In mondänem Glanz erstrahlt daneben der Glühvyrm, die heimliche Hoheit des Waldes, die romantisch zart für R.O.B.O. entflammt.

Bald zeigen sich weitere wundersame Wesen wie die Pilze, die miteinander im kollektiven Myzel-Bewusstsein verbunden sind, und der Mooshügel, dessen ferngesteuerter Ausläufer possierlich über die Bühne fährt, die von Carolin Gießner (von der auch die Kostüme stammen) großartig eingerichtet und mit verschlungenen Fadenvorhängen ausgestattet wurde, die sich behutsam heben und senken, gerade so, als würde der Wald atmen.

Dazu gibt es launig-nachdenkliche Livemusik – die Figuren haben ihre (von Fernando Derks Bustamante geschriebenen) Lieder, den „Rabensong“, den „Schweineblues“ und das „Glühvyrmlied“.

Die Zapfen verbuddeln, bitte!

Zwischenzeitlich gönnt sich das 80-minütige Stück eine kleine dramaturgische Entspannungspause, bevor es wieder anzieht, um auf der Suche nach einer lebensspendenden Stromquelle für R.O.B.O. zum alten Baum zu wandern (in „Zauberer von Oz“-Manier auf den bis in den Bühnenturm erhobenen Stoffstamm projiziert: Eddie Irle). Dessen knorrige Weisheit gibt schließlich den richtigen Fingerzeig – Kayla und ihr von einer Solarzelle mit Energie versorgter Ghettoblaster könnten helfen …

Den Kiefernzapfen vom Anfang übrigens, den sollen die Besucherinnen und Besucher im Wald vergraben, regt der Rabe am Ende an, vielleicht entwächst ihm ja ein neuer Baum. Wird gemacht, versprochen!

Freier Autor

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