Am Ende der bejubelten Premiere drängt sich die Frage auf: Braucht diese Musik den Aufwand, mit der sie in Szene gesetzt wurde? Und die Antwort lautet: Ja, sie braucht ihn, denn dahinter steckt eine tiefe Absicht: alte Musik in die Gegenwart zu holen. Gleich zu Beginn geben Claudia Isabel Martin (Regie) und Clemens Flick (musikalischer Leiter) ihr Konzept vor, das sie zum 15-jährigen Jubiläum von „Winter in Schwetzingen“ spartenübergreifend unter dem Titel „Was frag ich nach der Welt!“ realisiert haben: Auf der nachtschwarzen Bühne (Veronika Kaleja) gehen allmählich kleine Lichter (Lichtdesign Andreas Rehfeld) an, während die Sängerinnen (Dora Rubart-Pavliková, Sopran, Katarina Morfa, Mezzosopran) und Sänger (João Terleira, Tenor, Edward Grint, Bass-Bariton) dem Graben entsteigen, durch Türen gehen, sie zuschlagen und wieder öffnen und so den Blick der Zuschauer freigeben auf andere, ganz neue Räume.
Opulenz, Feuer, Wasser, Rauch und Nebel, geräuschhafte Effekte wie Wind, Donner und Vogelgezwitscher, das Spiel mit der Perspektive sind wesentliche Elemente des barocken Theaters; der gegenwärtige Bühnenraum als Teil dieser sinnlichen Inszenierung jedoch, die zeitlosen Kostüme, vor allem die vertonten Texte legen den Bezug zur Gegenwart, zum ewig Gültigen, offen.
Die Dialektik von „Memento mori“ und „Carpe diem“, auf die sich die Inszenierung stützt, ist typisch für die Epoche des Barock, ihre Wirkung aber geht darüber hinaus. Auch heute sind Menschen mit Pandemien, Krisen, Krieg, Leid und Not konfrontiert, auf die es zu reagieren gilt. Die teils knapp 300 Jahre alten Texte, die zum besseren Verständnis eingeblendet wurden, offenbaren zwar das ganze Ausmaß menschlichen Leids, trotzdem strotzen sie vor Optimismus und Lebensfreude.
Neben den eindringlichen Szenen ist es vor allem die Musik, die im Rokokotheater einen zauberhaften Abend bescherte. Das experimentierfreudige Philharmonische Orchester Heidelberg unter Leitung von Clemens Flick vertraut auf die berückende Wirkung barocker Klänge, unterlegt vom Generalbass, von Cembalo, Orgel und Theorbe. Das Solistenensemble hob in Rezitativen und Arien die Polaritäten von Liebe und Tod auf – nicht nur stimmlich eine Glanzleistung. Die Interpretation der Kantate „Meine Freundin, du bist schön“, die auf Versen aus dem Hohelied Salomons basiert, und der berühmten Ciaccona „Mein Freund ist mein und ich bin sein“ von Johann Christoph Bach erfüllten den Saal mit knisternder Erotik. Neben anderen Vokalstücken der Barockzeit stach insbesondere die plastische Gryphius-Vertonung „Verleugnung der Welt“ von Wolfgang Carl Briegel hervor.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-ueberzeugende-premiere-beim-festival-winter-in-schwetzingen-_arid,1875593.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/heidelberg.html