Mannheim. Ida war zu einer Konstante in meinem Leben geworden, verlässlich und jederzeit für mich da. Doch in letzter Zeit verhielt sie sich irgendwie seltsam.
„Ida, wo ist meine Brille?“, fragte ich.
„Im Wohnzimmer, auf dem Beistelltisch neben dem Sofa“, antwortete sie voller Überzeugung.
Doch sie lag falsch.
„Nein Ida, da ist sie nicht. Wo ist meine Brille?“, versuchte ich es noch einmal.
„Im Wohnzimmer, auf dem Beistelltisch neben dem Sofa.“
Na so was! Ich begann sämtliche Ablageflächen im Wohnzimmer zu inspizieren, öffnete die Schubladen der Kommode. Auch die Vorhänge zog ich zurück. Vielleicht hatte ich die Brille ja auf die Fensterbank gelegt?
„IM WOHNZIMMER AUF DEM BEISTELLTISCH NEBEN DEM SOFA!“, schallte es lautstark durch die gesamte Wohnung.
„Was soll das denn? Ida, Lautstärke begrenzen auf 5!“, rief ich ärgerlich, während ich den Korb mit der Häkelwolle ausräumte.
„Die Brille ist auf dem Beistelltisch neben dem Sofa. Wenn ich es doch sage!“
Leiser, aber nicht weniger bestimmt. Fast schon – gereizt?
„Die Brille…“
Was war denn bloß los mit ihr?
„Ida, gehe in Standby!“
Drei aufsteigende Töne – dam, dim, dum –, dann war Ruhe.
Dieser Vorfall hätte mich aufhorchen lassen sollen. Doch ich dachte mir nichts weiter dabei. Vielleicht stand ja ein Update an, oder wie das alles hieß. Es galt jetzt meine Brille zu finden, damit ich mich endlich meinem Häkelprojekt widmen konnte. Ida hatte eine Anleitung für ein Kaninchen-Kuscheltier entdeckt, meine Enkelin würde es lieben.
Die Autorn: Sarah Illies
- Sarah Illies, 39 Jahre alt, lebt mit ihrer Familie in Lampertheim.
- Als Ingenieurin hantiert sie mit Zahlen und Fakten, privat liebt sie Bücher, Sport und verbringt gerne viel Zeit im Garten.
- Das kreative Schreiben hat sie kürzlich wiederentdeckt und probiert seither dies und das aus.
- In der „Literatur Initiative Lampertheim“ hat sie Gleichgesinnte gefunden, mit denen sie an vielfältigen literarischen Projekten arbeitet.
Wann hatte ich meine Brille zuletzt getragen? Ich ließ den Tag Revue passieren:
7:30 Uhr, Ida öffnete langsam die Jalousien und spielte Musik zum Aufwachen. Den Wasserkocher hatte sie bereits eingeschaltet und den Mini-Ofen vorgeheizt, so dass ich nur noch den Tee aufgießen, und das Aufback-Croissant in den Ofen legen musste. Kein Timer nötig, Ida wusste immer genau, wie dunkel ich mein Croissant mochte. Dann ging ich ins Bad. Üblicherweise setze ich nach dem Duschen die Brille auf, weil ich beim Frühstück meine Zeitung las – ganz altmodisch auf Papier. Hatte ich das heute auch getan? Ida und ich hatten doch über Betrugsfälle beim schriftlichen Abitur diskutiert. Im Lokalteil war darüber berichtet worden. Oder war das vielleicht gestern gewesen? Ich überlegte und überlegte, aber ich kam nicht weiter.
„Ida, beende Standby.“
„Hallo Katja, ich bin für dich da, wie kann ich dich unterstützen?“
Alles wie immer. Zum Glück!
„Ida, habe ich noch Pläne für heute?“
„Ja Katja. Heute 15:30 Uhr Treffen mit den Saunamädels im Ostpark-Bad. Der Fahrdienst holt dich um 15:00 Uhr ab. Die Tasche haben wir gestern zusammen gepackt. Die Tasche steht im Flur. Rückfahrt um 18:30 Uhr, voraussichtliche Ankunft in der Wohnung um 18:55 Uhr.“
„Danke Ida, das klingt wunderbar. Aber mit dem Kochen wird es dann recht spät.“
„Keine Sorge Katja, es ist für alles gesorgt. »La Trattoria« liefert ein leicht bekömmliches Abendessen, junge Kartoffeln mit Grillgemüse, dazu Seefisch. Hoher Anteil an Omega-3-Fettsäuren, ausgewogene Aminosäuren-Kombination. Voraussichtliche Lieferzeit 19:05 Uhr.“
Ach Ida! Wenn ich sie nicht hätte! Ich musste zugeben, ich hatte mich lange dagegen gesträubt, Ida bei mir einziehen zu lassen. Eine Computerstimme die alles sieht, alles hört, jeden Schalter betätigen kann und angeblich weiß, was ich brauche, bevor ich es selbst weiß – bloß nicht! Aber irgendwann hatte ich dann doch nachgegeben. Und mittlerweile konnte ich mir ein Leben ohne Ida kaum vorstellen.
„Ankunft des Fahrdienstes in 5 Minuten.“ Ich griff mir die Tasche und öffnete den Reißverschluss, um einen letzten prüfenden Blick hineinzuwerfen. Ganz oben auf lag mein Brillenetui. Seltsam. Aber egal, ich wollte den Fahrdienst nicht warten lassen. Mit der Tasche über der Schulter verließ ich die Wohnung und hörte noch das leise Klicken, mit dem Ida die Tür hinter mir verriegelte.
„Hallo Katja, du siehst entspannt aus. Wie war der Ausflug?“
„Hallo Ida, sehr schön, vielen Dank. Aber ich bin auch ziemlich müde und freue mich auf das Abendessen.“
„Voraussichtliche Ankunft der Lieferung um 19:04 Uhr.“
Und tatsächlich, kurze Zeit später klingelte es an der Tür. Ich öffnete in Erwartung eines kurzweiligen Gesprächs mit dem Lieferboten. Er war immer so höflich! Doch statt eines freundlichen Gesichts erwartete mich vor der Tür nur ein dampfender Karton, daneben ein gefalteter Zettel.
„Sehr geehrte Frau Haid“, stand dort zu lesen, „wir schätzen Sie als unsere langjährige Kundin. Allerdings können wir nicht dulden, dass unser Personal bei der Bestellannahme beleidigt wird und falsche Vorwürfe erhoben werden. Unsere Angestellten in der Lieferung sind absolut vertrauenswürdig. Die Diebstahlsvorwürfe sind in unseren Augen haltlos. Wir stehen voll und ganz hinter unserem Personal. Wir bitten Sie, diese Angelegenheit auf Ihrer Seite zu klären, oder von weiteren Bestellungen in unserem Haus abzusehen.“
„Katja, wie geht es dir? Du siehst sehr blass aus. Aktiviere Notfall-Protokoll. Notruf absetzen in 10, 9, 8...“
„Ida, Notruf-Protokoll abbrechen! Ida, gehe in Standby!“
Dam, dim, dum.
Am nächsten Morgen wurde mir endgültig klar, dass ich ein Problem hatte. Nein, nicht ich hatte ein Problem. Ida hatte ein Problem. Ich saß mit dem Smartphone am offenen Fenster, der Geruch nach Rauch war wirklich unerträglich. Um den festgebackenen Klumpen Kohle im Ofen würde ich mich später kümmern, wichtiger war jetzt Ida.
„Herzlich willkommen bei IDA Systeme – Intelligente Digitale Assistenz für ihr selbstbestimmtes Leben. Bitte beschreiben sie ihr Anliegen.“
„Hallo, ja ich weiß nicht, meine Ida spielt irgendwie verrückt.“
„Ich verstehe leider nicht. Bitte wiederholen sie ihr Anliegen.“
„Mein IDA-System spielt verrückt!“
„Meinen sie vielleicht »IDA-Systeme und Gesellschaftsspiele«?“
„Was? Nein, keine Gesellschaftsspiele! Ich glaube mein IDA-System hat einen Fehler! Sie verhält sich anders als früher, ganz komisch.“
„Bitte bleiben sie in der Leitung.“
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Nach zehn Minuten Warteschleife, während der ich Idas Kenntnis meines Musikgeschmacks sehnlich vermisste, konnte ich das Problem endlich einem Menschen schildern. Rund eine Stunde später saß eine junge Frau auf meinem Sofa. Rotes T-Shirt, schwarze Jeans, an den Füßen Sneakers und auf dem Schoß ein Tablet.
„Ich schalte mich jetzt auf ihr System auf, Frau Haid. In Ordnung?“
„Natürlich. Ich hoffe wirklich, dass sie Ida helfen können.“
„Das hoffe ich auch. Ihr Problem ist sehr speziell. In solchen Fällen ist es sinnvoll, die Analyse vor Ort durchzuführen. Die lokalen Parameter können einen großen Einfluss haben, wissen sie?“
Sie begann auf ihrem Tablet herumzutippen und zu wischen.
„Hm.“ Kleine Falten bildeten sich auf ihrer Stirn, während sie weiter tippte und wischte.
„Hm. Das ist interessant. Schauen sie, Frau Haid, hier.“
Sie hielt mir das Tablet hin. Ich nahm es näher heran, meine Brille war schon wieder verschwunden. Aber ob sie mir so viel genutzt hätte? Auf dem Bildschirm sah ich nichts als helle Punkte, manche grell-weiß leuchtend, andere blasser. Dazwischen viele feine Linien. Wie Wassertropfen in einem Spinnennetz, durchstrahlt von der Morgensonne.
„Entschuldigen sie, aber ich verstehe nicht. Was soll das darstellen?“
„Das ist ein Abbild ihres IDA-Systems. Und gewissermaßen auch ein Abbild von ihnen.“
Sie schien die Fragezeichen in meinem Kopf zu spüren und fuhr fort: „Unsere Systeme sind darauf trainiert, die Persönlichkeit ihrer Kunden und ihre Interessen zu verstehen, sich daran anzupassen und so zu lernen, welche Wünsche und Bedürfnisse sie haben. Und auch, wie sich ihre Persönlichkeit und ihre Bedürfnisse in Zukunft wahrscheinlich entwickeln werden. Jeder Punkt hier ist sozusagen ein Persönlichkeitsmerkmal oder ein Interesse von ihnen, und die Linien zeigen, welche davon sich beeinflussen und wie stark. Und jetzt sehen sie mal hier.“
Wisch, wisch.
„Das gerade war ihr IDA-System vor einem Jahr. Und das ist seither passiert.“
Das Netz veränderte sich, die Punkte flackerten. Manche Linien verschwanden, neue kamen dazu. Und allmählich begannen Punkte ganz zu verblassen, das Netz bekam kleine Löcher. Gleichzeitig erschienen außerhalb, wo bisher nur Schwärze war, neue Punkte und Linien, bis schließlich zwei Netze zu sehen waren, verbunden durch wenige feine Linien.
„Frau Haid, wie war ihr Befinden in den letzten Monaten? Haben ihre Freundinnen oder Verwandte sie vielleicht angesprochen, dass sie sich verändert haben? Vergessen sie öfter Dinge?“
Ich zuckte zusammen. Worauf wollte diese Frau hinaus?
„Ja, ich vergesse manchmal Dinge“, gab ich zu. „Aber doch gerade WEIL ich Ida habe – ich muss mir doch gar nichts mehr merken, weil Ida sich alles merkt.“
Sie blickte mich mitleidig an.
„Frau Haid, vielleicht gibt es ja eine Fehlfunktion im Anpassungsalgorithmus. Ich persönlich glaube aber nicht daran, unsere Systeme sind ausgereift. Wenn sie darauf bestehen, kann ich trotzdem ein Ticket aufmachen. Aber an ihrer Stelle würde ich mich mal untersuchen lassen.“
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