Mannheim. Als es einen Schlag machte, dachte Jacob: „Jetzt ist alles vorbei!“
Der alte Türgriff war ihm beim Verlassen des Hauses aus der Hand gerutscht, so dass die Haustür laut zuknallte. Er horchte einen Moment auf. Doch im oberen Stockwerk rührte sich nichts.
„Dad hat es scheinbar nicht gehört. Gott sei Dank!“, wurde Jacob erleichtert klar. Gar nicht auszudenken, wenn sie sich einmal mehr gefetzt hätten. Dad hätte seinen Trip unter allen Umständen zu unterbinden versucht. Für ihn war es undenkbar, dass sich sein Sohn ohne das SD-Armband aus dem Haus macht. Denn es war eigentlich verboten, dieses „wunderbare Armband“, wie Dad es immer anpries, nicht zu tragen.
Erst gestern wollte er Jacob einmal mehr davon überzeugen, dass die AI-gesteuerten Tools wie dieses Armband nur zur Sicherheit und zum Wohle aller seien. Ebenso wie das immer flächendeckendere Kamera-Screening auf den Straßen und Plätzen in Omaha.
„Jacob, verstehe doch, das alles ist wirklich nur zu unserem Schutz und einem besseren Miteinander! Gerade Ihr jungen Leute müsstet doch erkennen, wie sich Euer Leben damit leichter gestaltet“, formulierte er regelmäßig und fast schon pathetisch.
Der Autor Peter Mudra
Der 61-jährige, gebürtige Wormser lebt mit seiner Familie seit Jahrzehnten in Mannheim und ist an einer Hochschule beschäftigt, wo er regelmäßig auch wissenschaftliche Texte verfasst. Mit dem Schreiben von Kurzgeschichten hat der leidenschaftliche Radfahrer gerade begonnen und legt hier sein Erstlingswerk vor.
Jacob spürte in sich wieder diesen Zorn aufsteigen, den er empfand, wenn sein Vater die „große Revolution der künstlichen Intelligenz“ anpries. Dad war stolz, dass er als IT-Professor an der hiesigen Universität in das große Projekt „Sensible Use of Resources“ federführend eingebunden war. Mit seinem Team hatte er für das staatliche Machine Learning Programm erfolgreich die Echtzeitnutzung von Künstlicher Intelligenz entwickelt. Hierfür war er sogar vom Gouverneur ausgezeichnet worden. Nebraska war damit der erste Staat in den USA, in dem auf alle Smartphones verzichtet werden konnte und stattdessen mit dem „Secure Divice Armband“ durch eine sehr individualisierte Sprachunterstützung alles bewerkstelligt wurde, was man zuvor mit digitalen Geräten gemacht hatte.
„Dad, viele von uns haben doch mittlerweile kapiert, um was es wirklich geht!“, hatte er seinem Vater zuletzt fast schon schreiend entgegengebracht. „Wir sollen doch alle nur überwacht werden! Oder warum darf man sich nicht gegen das SD entscheiden?“
Das war dann der übliche Punkt, an dem sein Vater beleidigt reagierte, da er dieses vehemente Misstrauen seines Sohnes sehr persönlich nahm.
Es begann zu regnen. Jacob zog sich die Kapuze seines Hoodys über den Kopf. Dann schaute er auf sein Handgelenk und grinste über die ungewohnte Leere an dieser Stelle amüsiert in sich hinein. „Fühlt sich irgendwie frei an“, dachte er. Gleichzeitig wurde ihm klar, dass er sich nun sehr beeilen musste. Denn das abgelegte SD löst nach 15 Minuten einen Impuls an das Central Resource Backup Center aus. Und was dann passieren kann, kannte er nur aus Berichten auf der High-School.
„Gar nicht lustig!“, wie ihm sein Freund Mason zu seiner langen Abwesenheit mal angedeutet hatte. Über die genauen Sanktionen war ihm absolutes Schweigen auferlegt worden.
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Als er an die Kreuzung zur Madison-Street kam, wurde der Regen immer stärker.
„Mist! Hoffentlich ist Ella darauf vorbereitet.“ Er freute sich so sehr, endlich wieder ein wenig Zeit mit ihr verbringen zu können.
„Ganz schönes Mistwetter!“, hörte er hinter sich jemanden sagen, als er an der Harrison-Street angekommen war.
Jacob zuckte vor Schreck zusammen. Er drehte sich langsam um und entdeckte einen Mann, der mit der einen Hand einen großen Stockschirm über seinem Kopf und mit der anderen eine neonfarbene Hundeleine hielt. Am Ende der Leine war eine Bulldogge. Sie machte keinen freundlichen Eindruck mit ihrem faltigen und stumpfnasigen Gesicht. Die Lefzen waren hochgezogen, so dass man die Fangzähne bedrohend deutlich erkennen konnte.
Jacob versuchte sich schnell wieder zu sammeln und stammelte: „Ja, klar. Da haben Sie aber absolut recht. Ein Mistwetter.“
„Was treibt Dich bei dem Regen raus?“, fragte der Mann mittleren Alters und deutete dabei auf seinen Hund.
„Oh, ich bin auf dem Weg zu Green Beans Coffee“, antwortete Jacob schnell. Irgendwie hatte er das Gefühl, dieser Typ würde ihn durchschauen.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis dieser sagte: „Mensch, dann musst Du aber hier die Harrison entlanglaufen.“
„Echt?“, mimte Jacob den Verblüfften.
„Na klar!“, kam es wie aus der Pistole geschossen. „Und schau, dass Du immer im Licht der Laternen bleibst“, fügte er gleich hinzu.
„Selbstverständlich! Und danke für den Hinweis. Es ist ja zu meiner Sicherheit.“ Jacob nickte höflich und verabschiedete sich, bevor er dann in die vorgegebene Richtung auf dem hell erleuchteten Gehweg der Harrison-Street aufbrach.
Nach einigen Metern drehte er sich kurz um und stellte erleichtert fest, dass der Mann in die andere Richtung weitergelaufen war.
„Zu meiner Sicherheit!“, kam es ihm in Gedanken. „Dass ich nicht lache!“ Jeder wusste doch, dass an den Laternen die neueste Generation der Discover-Security-Kameras angebracht waren, mit direkter Verbindung zum Central Resource Backup Center.
Nach wenigen Minuten überquerte Jacob die breite Straße, die um diese Abendzeit wenig befahren war. Dabei bemerkte er sofort, wie sich zwei Kameras an den Masten direkt über ihm drehten.
„Es scheint, als haben sie die Verfolgung aufgenommen“, dachte er. Schnell rannte er auf ein angrenzendes Gelände mit Bäumen und Gestrüpp. Dort war er außer Blickweite und erreichte in der Dunkelheit schon bald den Papillion Creek Park.
„Hoffentlich schafft es Ella“, waren seine Gedanken bei dem Mädchen, für das er so viel empfand.
Er hatte Ella vor fünf Monaten an der High-School kennengelernt. Sie ist im Jahrgang unter ihm und fiel ihm mit ihrer kurzen Frisur und ihrer selbstbewussten Art schon länger auf. In einer Pizzeria, in der Jacob und seine Kumpels öfter abhängen, kam er mit Ella dann häufiger in Berührung. Und obwohl Kontakte dieser Art illegal sind, kamen sich die beiden zuletzt immer näher. Sie mochten einander sehr. Ella und ihm war aber klar, dass sie aufgrund des Best-Fit-Programms in Nebraska sehr auf der Hut sein mussten.
„Jacob!“, hörte er es wie aus dem Nichts rufen, fast schon schreien. Es war Ella, und sie wurde von Security Guards verfolgt.
Jacob war klar, dass Ella aufgeflogen sein musste.
„Ella! Hier Ella!“, versuchte er mit lauten Worten auszustoßen, aber seine Stimme versagte fast.
Ella hatte ihn dennoch gehört und rannte mit Tempo in seine Richtung. Als sie bei ihm ankam, packte er sie kurzentschlossen und hievte sie über den Parkzaun. Kurz bevor die Guards sie erreichten, zog sich Jacob selbst auf die andere Seite.
„Bleibt stehen!“, schrie es bedrohlich aus Mund des einen Guards. Sein Gesicht ähnelte der Bulldogge von vorhin.
„Wir haben nichts getan!“, rief Ella schluchzend.
„Ohne SD unterwegs zu sein ist ein schwerwiegender Sicherheitsverstoß, das weißt Du genau!“, bellte der Guard. Und fügte lauthals hinzu: „Und sich mit einem Jungen zu treffen, verstößt gegen das Best Fit Programm, und das weißt Du auch!“
„Scheiß auf das Best Fit!“, brüllte Jacob zornig. „Außerdem habe ich Ella überredet!“
„Jacob!“, rief es auf einmal hinter ihm mit einer sehr vertrauten Stimme. Es war sein Vater, der von der zum Park angrenzenden Straße gelaufen kam.
Wie kam der hierher? Woher wusste er …?
„Dad, was willst Du?“
„Verhindern, dass Du einen großen Fehler machst. Du weißt, dass Du mit 19 ins Best Fit aufgenommen wirst. Glaub mir das Programm ist wirklich intelligent! Damit kriegst Du eine Partnerin, die wirklich zu Dir passt.“
„Hörst Du Dich eigentlich reden, Dad? Das Best Fit soll bestimmen, wen ich lieben soll?“
„Ja, Jacob. Weil es viel tiefere Einblicke hat, in das worauf es wirklich ankommt und was am besten passt.“
„Ich liebe Ella und lasse mich nicht von Eurer blöden Partner-App verkuppeln!“
Jacob sah, dass die Guards fast schon über den Zaun geklettert waren. Bulldogge war nun nur noch wenige Meter entfernt, als er Ella eilig an die Hand nahm.
„Schnell Ella, nach da oben!“, rief er fast schon verzweifelt.
Sie rannten beide, als ginge es um ihr Leben, und wussten doch, dass sie eigentlich keine Chance hatten. Denn spätestens an der Straße, die sie jetzt erreichten, würden die beiden durchtrainierten Häscher sie gleich eingeholt haben.
Jacob blieb stehen. Er war so außer Atem, dass er kaum ein Wort herausbrachte.
„Ella ich liebe Dich!“, flüsterte er ihr ins Ohr, als plötzlich wie aus dem Nichts mit quietschenden Reifen ein Auto neben ihnen hielt und sich die Tür öffnete.
„Los steigt ein!“, kam ein deutliches Kommando aus dem Wagen.
„Oma?“, entfuhr es Jacob ungläubig.
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