Umweltschutz

Wunder wilder Natur

Immer mehr Menschen gestalten ihre Gärten als Zufluchtsorte für bedrohte Arten. Doch können diese blühenden Inseln ein wirksames Gegengewicht zu industrieller Landwirtschaft, Monokulturen und Flächenfraß sein? Ein Besuch bei zwei Naturfreunden.

Von 
Klaus Sieg
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Insektensterben. Dramatischer Rückgang der Arten. Frühling bald ohne Singvögel. Bereits in der Einfahrt zu Jürgen Schneiders Grundstück am Rande der westfälischen Noch-Bergbaustadt Ibbenbüren scheinen dem Besucher derartige Meldungen fremd. Vögel zwitschern in allen Tonlagen. Es summt und brummt wie auf einer Formel-1-Rennstrecke.

In den Sandfugen zwischen den Platten aus Waschbeton blühen Felsennelke, Hasenklee, Natternkopf, Weinberglauch und unzählige andere einheimische Arten. Ein Teil der Platten hat der 55-Jährige zudem entfernt, um auf dem darunter liegenden, sandigen Boden noch mehr Raum für Blühpflanzen zu schaffen, die magere Standorte lieben.

So wächst bereits auf den ersten Metern seines 2000 Quadratmeter großen Grundstücks mehr Vielfalt als woanders in ganzen Regionen. Wie viele Pflanzenarten es sind? Schneiders bläst die Backen auf. „Das müsste sich so im vierstelligen Bereich bewegen.“ Der Hobbygärtner weiß alleine von 30 verschiedenen Sorten Minze, 60 Sorten Thymian und 40 Wildrosensorten. Ein Wunder wilder Natur, mitten in einer Wohnsiedlung mit akkurat gestutzten Hecken und sauber geharkten Bürgersteigen.

Radikalkur für den Garten

Vor zehn Jahren hat Jürgen Schneiders das Rotklinkerhaus seiner Oma geerbt – und wusste schnell, was er daraus machen wollte: einen Garten, der nicht nur den Menschen erfreut sondern der Natur dient. „Dieser Garten war eigentlich tot, ein typisches Produkt seiner Zeit, mit Rhododendren und anderen Zierpflanzen, von denen kaum ein Insekt oder Vogel etwas hat.“

Ein Jahr beobachtete er den Garten. Wo gibt es auch im Sommer noch Schatten, wo im Winter Sonne? Wo sammelt sich das Wasser? Wie ist die Qualität der Böden? Dann begann er eine Radikalkur, riss alte Pflanzen heraus, ließ Mutterboden abfahren und Kalkschotter aufschütten. Warum das? „Vielfalt braucht magere Böden und trockene Flächen.“ Die Erklärung dafür hat etwas mit der Konkurrenz der Pflanzen um Nährstoffe zu tun. Alle Pflanzen versuchen, sich dort anzusiedeln, wo sie diese am leichtesten bekommen. An den gutversorgten Plätzen ist der Kampf um die Vorherrschaft jedoch hart. Verlierer sind die zarten, langsam wachsenden Pflanzen. Sie entwickeln nur wenige Samen, keine Ableger oder bilden nur schwache Wurzeln aus.

Ganz anders die sogenannten Stickstoffzeiger, wie etwa Löwenzahn oder der Krause Ampfer. Sie dominieren die satten, nährstoffreichen Standorte. Daran haben sich die zarten Pflanzen im Laufe der Evolution angepasst und sind auf die schlechten Plätze ausgewichen. Dort wiederum bieten sie Nahrung und Lebensraum für unterschiedlichste Insekten und Kleintiere.

„Diese Standorte gehören zu den bedrohtesten Ökosystemen überhaupt“, sagt Schneiders. Schuld sind die voranschreitende Flächenversiegelung sowie die intensive landwirtschaftliche Nutzung, meist verbunden mit massivem Pestizideinsatz und Überdüngung. Die Folgen sind fatal. Zwar gibt es relativ wenige Langzeitstudien. Wo man aber den Rückgang von Arten und Menge an Insekten quantitativ untersucht hat, sind die Zahlen mit bis 75 Prozent Rückgang seit der Nachkriegszeit dramatisch.

„Auch die Zahl der in die Roten Liste gerutschten Insekten steigt permanent“, sagt der Münchner Zoologe Prof. Dr. Gerhard Haszprunar. Was das den Menschen angeht? Es geht um nicht weniger als seine pflanzliche Ernährungsgrundlage. „Längst nicht nur die Bienen sind Bestäuber, sondern fast alle Schmetterlingsarten, Schwebfliegen und Käfer“, so der Wissenschaftler.

Der eigene Garten bietet die Möglichkeit zu handeln. Das sieht nicht nur Jürgen Schneiders aus Ibbenbüren so. Zusammen mit 2500 anderen Menschen ist er Mitglied im Verein Naturgarten e.V. Hier organisieren sich Pioniere, die gegensteuern wollen. Selbst solche ohne Garten, wie zum Beispiel ein Balkongärtner aus München, der auf sechs Quadratmetern 60 Insektenarten beobachten konnte.

Jürgen Schneiders kleine Wildnis lässt einen faulen Gärtner vermuten. Das Gegenteil ist der Fall: Schneiders schafft Totholz, Bauschutt und andere Materialien heran. Er lässt mit Wasser aus der Regenrinne und einer Verrieselungsfläche aus Lehm und Kies ein Wechselfeuchtgebiet entstehen, wo der bedrohte Große Wiesenknopf wachsen kann, dessen blutrote Blüten Nahrung für zwei sehr seltene Schmetterlingsarten sowie verschiedene Bienen und Ameisen bieten.

Nicht alles Alte reißt er heraus, manches lässt er sterben und verrotten. In dem toten Stumpf einer Zierkirsche, die noch seine Oma gepflanzt hatte, nisten jetzt Haubenmeisen. Abwarten und liegen lassen. Oder stehen. Wie zum Beispiel die Königskerze im dritten Jahr, wenn sie braun und trocken wird und die meisten Gärtner sie abschneiden. Genau dann bietet sie einen Nistplatz für Wildbienen. „Mit den inzwischen weit verbreiteten Insektenhotels ist vielen Arten wenig geholfen“, sagt Schneiders. Sie brauchen Platz in verlassenen Schneckenhäusern, Uferbruchkanten, in Steinhaufen oder eben in der vertrockneten Königskerze.

All das erfordert viel Beschäftigung mit dem Thema. Der Lohn dafür? Wer kann in seinem eigenen Garten schon Falter beobachten, wie das in einigen Regionen bedrohte Gemeine Blutströpfen, das Waldvögelein oder das Taubenschwänzchen? Noch dazu Vögel, wie Heckenbraunellen, Seidenschwänze oder Wacholderdrosseln. „Viele meiner Besucher stehen auf der Roten Liste“, sagt Jürgen Schneiders.

Am Anfang war die Nachbarschaft irritiert darüber, was er im Garten seiner verstorbenen Oma trieb. Mittlerweile hat sich die Stimmung gewandelt. Vor allem die direkten Nachbarn zeigen großes Interesse. Sie freuen sich, dass Schneiders Bienenvölker, die er seit kurzem hält, ihre Obstbäume befruchten. Das wiederum freut Schneiders – nach all der anfänglichen Skepsis.

35 Lkw-Ladungen Humus

Auch Markus Gastl stieß zunächst auf großes Unverständnis. Als er sein Grundstück im fränkischen Dorf Beyerberg vor zehn Jahren übernahm, ließ er zunächst die gesamte Humusschicht abtragen. 35 Lkw-Ladungen besten Wiesenhumus. „Die Schicht war 20 bis 30 Zentimeter dick, den Humus habe ich einfach verschenkt.“ Gastls Augen funkeln herausfordernd. „Die Nachbarn dachten wohl: Jetzt ist der total verrückt geworden.“ Die Grünfutterwiese hinter Gastls Haus galt schließlich als eine der besten im Dorf. Doch plötzlich sah sie aus wie ein Recyclinghof für Baustoffe.

Anstelle des Humus hatte Gastl 250 Tonnen Kalkschotter, 24 Lkw historischen Bauschutt, unter anderem eine komplette abgerissene Scheune, und zwölf Lkw Sand auf das 6000 Quadratmeter Grundstück fahren lassen. Monatelang hat er Ziegel oder Kalksteine zertrümmert, aufgeschichtet, angeordnet, hat Drainagen und Tümpel gebaut und so Unterschlupfplätze und Nistmöglichkeiten geschaffen.

Markus Gastl versucht, eine möglichst breite Palette Lebensräume und Nahrung anzubieten. Insekten benötigen auf engstem Raum und in einem kleinen Zeitfenster unterschiedlichste Bedingungen. Der Marienkäfer überwintert in Holzspalten und muss im Frühjahr Blattläuse vorfinden. „Die gibt es nicht, wo alles tot gespritzt ist.“

Derartige Beispiele sprudeln aus Gastl, der schon als kleiner Junge Stunden vor einem Ameisenhaufen sitzen konnte, nur so heraus: Das Weibchen des Hopfenwurzelbohrers braucht eine ungemähte Wiese, um dort ihre Eier abzuwerfen. Die Wollbiene ernährt sich von dem Nektar der gelb blühenden Felsenfetthenne. Um ihr Nest in Steinschlitzen zu bauen, schabt sie aber die wolligen Fasern der Königskerze ab. Alle diese Parameter müssen auf vielleicht 20 Quadratmetern stimmen, da die maximale Flugstrecke der Wollbiene nicht länger als 50 Meter ist. „Fehlt nur einer der Parameter, hat das Tier keine Chance.“

Markus Gastl stapft in den Garten. Weit kommt er nicht. Zu faszinierend sind die kreisrunden Löcher, die die Blattschneiderbiene in die Blätter des Hartriegelstrauches geschnitten hat. Die Augen von Markus Gastl leuchten, dann wird er ernst: „Wenn alle auf der Welt so wie wir in Zentraleuropa leben, bräuchte die Menschheit fast fünf Mal den Planeten Erde.“

Markus Gastl weiß, dass er nur eine Insel geschaffen hat, in der er immer wieder regulierend eingreifen muss. In seinem Drei-Zonen-Garten gibt es außen eine Pufferzone aus dichtem Buschwerk und Gehölz. So schützt er seinen Garten vor Emissionen von Ackerstaub voller Pestizid und Dünger. In der zweiten Zone wächst blühende Vielfalt auf mageren Böden. Die dritte Zone versorgt den Selbstversorger mit Gemüse und Obst. Gastl hat über seine Idee des Drei-Zonen-Gartens ein erfolgreiches Buch geschrieben.

Auch hat er das Hortus Netzwerk gegründet, in dem 120 Naturgartenaktivisten organisiert sind. Und es kommen immer mehr Besucher zu seinen Führungen durch den „Hortus Insectorum“ sowie in den zweiten Garten, den er auf dem ehemaligen Gelände eines Rosenzüchters angelegt hat.

Werden die Gärten der Schneiders und Gastls unsere Vielfalt retten? Oder sind die Mühen dieser Aktivisten nur ein Tropfen auf den heißen Stein? Markus Gastl musste in den vergangenen Jahren bemerken, dass selbst in seinem Paradies Zahl und Arten an Insekten zurückgehen. „Ich halte hier nicht auf, was draußen passiert.“

Das überrascht den Wissenschaftler Haszpruna nicht: „Die Fläche der Gärten in Deutschland ist sehr klein im Vergleich zur landwirtschaftlich genutzten.“ Nicht zu unterschätzen aber sei die mit den naturnahen Gärten verbundene Sensibilisierung. „Die Menschen schätzen und schützten nur das, was sie auch kennen.“ Und das kann eine Menge sein, wie der Besuch in den Gärten der beiden Retter zeigt.

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