Obwohl etliche "Fotos" im Umlauf sind und "Fußabdrücke" gefunden wurden - das Ungeheuer von Loch Ness will sich nicht so recht zeigen.
Loch Ness liegt zehn Kilometer südwestlich von Inverness im schottischen Hochland. Nicht weit von dem mythischen Ort, wo dereinst Macbeth' Schloss stand. Der in der letzten Eiszeit entstandene Süßwassersee zieht sich über knapp 37 Kilometer und ist bis zu 230 Meter tief - bei einer durchschnittlichen Breite von nur 1,5 Kilometer. In dem kalten und trüben Gewässer tummeln sich Barsche, Karpfen, Forellen, Neunaugen, Hechte, Lachse, Aale, die fischwirtschaftlich bedeutsamen Seesaiblinge - sowie ein Monster.
Die erste, sogenannte moderne Sichtung - bereits im Jahre 565 war ein Ungeheuer aufgetaucht, konnte jedoch vom Heiligen Columban mit Gottes Hilfe vertrieben werden - ging im April 1933 in die kryptozoologischen Annalen ein. Das Ehepaar Aldie und John Mackay beobachtete vom Auto aus, in Höhe von Aldourie Castle, "ein sich rollendes und durch den See stürzendes sehr großes Tier". Die Geschichte machte die Runde und fand ihren Weg zum "Inverness Courier". Am 2. Mai erschien ein reißerischer Artikel über eine "Kreatur von enormer Größe, die sich im Wasser wälzte und Wellen erzeugte, die so groß waren, als hätte ein Dampfer sie verursacht".
Und obwohl Einheimische im Laufe des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder "etwas Lebendes, Großes" im See erblickt haben wollten, begann Nessies Siegeszug durch die Schlagzeilen der Weltpresse erst im Jahre 1933. Am 22. Juli wurde "The Monster" sogar beim Landgang überrascht. Die Eheleute Spicer, ebenfalls mit dem Wagen unterwegs, beobachteten ein gewaltiges "prähistorisches Wesen", das ein Lamm mit sich herumschleppte und dann damit in den Fluten verschwand. Mr. Spicer schätze das Ungeheuer auf über 7, 50 Meter Länge mit einem gestreckten, relativ dünnen Hals.
So ein langhalsiges Wesen fiel im September auch dem Hobby-Journalisten Alex Campbell aus Fort Augustus auf. Am 12. November gelang Hugh Gray beim Spaziergang im Dörfchen Foyers das erste Nessie-Foto, als im Loch ein über zehn Meter langes Wesen mit rundem Rücken auftauchte. Das Foto wurde fachmännisch untersucht und für nicht manipuliert befunden. Dumm nur, dass es lediglich ein schemenhaftes Etwas zeigte.
Nessie-Skeptiker tippten auf einen tauchenden Otter, ein Autor einer Anglerfibel auf einen Riesenwurm. Viel deutet auf einen schwimmenden Hund mit Stöckchen im Maul hin. Im Dezember gelang es gar, das Ungeheuer nahe Urquhard Castle auf Zelluloid zu bannen. Leider war aber wieder nichts Identifizierbares zu erkennen. Am Ufer wurden Monster-Fußabdrücke gefunden. Sie erwiesen sich als perfide Scherze von Witzbolden. Eine Expedition unter dem Großwildjäger Marmaduke "Duke" Wetherell 1933/1934 stieß ebenfalls auf Spuren am Ufer. Sie stammten von einem präparierten Flusspferdefuß. "Duke" selbst hatte die Abdrücke hinterlassen.
Schlange mit Reptilienkopf
Das bekannteste und aussagekräftigste Foto vom Monster erschien am 21. April 1934 in der Daily Mail und zeigte eine elegante Seeschlange mit kleinem Reptilienkopf auf langem, dünnem Hals. Die Aufnahme war angeblich zwei Tage zuvor vom Londoner Arzt Robert Kenneth Wilson gemacht worden. Wilson galt als seriös. Sie ist als "Surgeon's Foto", als "Chirurgen-Foto", in die Monstergeschichte eingegangen.
Anhand der Augenzeugenberichte wurde nun Nessies Steckbrief erstellt. Das Loch-Ness-Ungeheuer ist fünf bis 15 Meter lang. Der Rumpf misst bis zu zehn und erreicht einen Umfang von vier Metern. Der Kopf ähnelt dem einer Schnecke, sitzt auf einem etwa zwei Meter langen Hals nach Art eines Elefantenrüssels und ist im Vergleich zum Körper klein. Der Schwanz ist flach, sie (Nessie ist weiblich) besitzt vorn zwei kleine, hinten zwei große Flossen. Die Haut wird als silbrig, gräulich, schwärzlich beschrieben. Im Wasser ist sie flott unterwegs, zu Lande gemächlich.
Aber was ist Nessie? Eine Seeschlange, ein Riesenmolch, ein Riesentintenfisch, Monster-Aal, Wal, eine Seekuh, ein Stör oder Wels, Seehund, Wasservogel, Fischotter oder Seedelphin? Oder besteht das Ungeheuer aus gleich mehreren Exemplaren solcher Tiere? Möglicherweise ist es gar ein in der Gegend heimischer Geist, genannt Wasserpferd? Oder einfach nur ein Kuchenkrümel auf der Kameralinse, ein Schattenspiel, Baumstamm, eine Oberwasser-, Unterwasser-, Kielwasserwelle, das visuelle Produkt von Gasen aus der Tiefe, ein Froschmann oder ein (feindliches) U-Boot? Haben die Sichtungen gar mit dem hochgeschätzten Whisky der Highlands zu tun?
Weit oben auf der Nessie-Favoritenliste aber steht ein prähistorisches Ungetüm: der Plesiosaurus, ein Meeresreptil der Kreidezeit. Die Merkmale stimmen verblüffend überein. Doch Reptilien sind Lungenatmer, man müsste das Tier also beim Luftholen häufig beobachten können. Auch gilt der vor etwa 10 000 Jahren entstandene See als (mit Sommertemperaturen von maximal sieben Grad Celsius) zu kalt für seit 70 Millionen Jahren ausgestorbene Flossenechsen.
Expeditionen aus aller Welt unternahmen diverse Versuche, Nessie in ihrem Lebensraum - in dem übrigens mehrere Dutzend Exemplare inklusive Nachwuchs vermutet werden - aufzuspüren. Mit wissenschaftlichen Methoden und modernster Technik. U-Boote und Spezialkameras kamen zum Einsatz. Ab einer Tiefe von zehn Metern jedoch sah auch der falkenäugigste Taucher nichts mehr. Das Wasser ist wegen ständig eingespülter Torfpartikel schwarz.
Zwar nahmen die Nessie-Jäger hin und wieder schemenhaft oder im Sonar "irgendetwas Großes" wahr, das blieb aber unbestimmt. Es könnte sich um Fischschwärme gehandelt haben. Auch eine flächendeckende Kameraüberwachung war erfolglos. Und ausgelobte Belohnungen von bis zu einer Million Pfund brachten den Menschen das Monster nicht näher. Selbst "Sex-Cocktails" aus Fortpflanzungshormonen von Aalen, Seekühen und Seelöwen wurden monsterseits ignoriert. Schleppnetze brachten Fische zutage, aber keine Nessie.
Nach einer Pause während des Zweiten Weltkriegs tauchte das scheue Wesen wieder auf. Beinahe jährlich wurden Sichtungen gemeldet. Manchmal ließ es sich sogar fotografieren. Besonders beeindruckend ist eine Aufnahme aus dem Jahre 1955: Nessie vor malerischer Burgruine. 1970 erinnerte ein Foto an einen schwimmenden Elefanten, 1998 wieder an eine Seeschlange. Und 2007 zeigte sich das Monster als einem Seehund wie aus dem Gesicht geschnitten.
Schon im Jahre 1951 waren auf einem Foto des Holzfällers Lachlan Stuart drei aus dem Wasser ragende Höcker zu erkennen. 1975 gab es sogar wiederholt Buckelsichtungen. Die warfen zwei bis heute unbeantwortete Fragen auf: Existiert eine weitere Art im Loch? Oder wurden die Höcker durch Stopps während der schlängelnden Fortbewegung Nessies im Wasser verursacht?
Bis heute sind über 3000 Mensch-Monster-Begegnungen registriert. Jedoch mussten Nessie-Gläubige einen schweren Rückschlag verkraften. Das berühmte "Chirurgenfoto" hatte sich als dreiste Fälschung erwiesen. Und wieder steckte Marmaduke Wetherell dahinter. Er hatte sich von seinem Stiefsohn ein 30 Zentimeter großes Mini-Monster bauen lassen, auf einem Spielzeug-U-Boot angebracht und in einer stillen Bucht fotografiert. Und Dr. Wilson, wohl doch nicht so seriös wie angenommen, gab seinen guten Namen für den Jux her. Der Schwindel flog erst 1994 durch einen Artikel im Sunday Telegraph auf.
Nessie-Tourismus
Nessie ist heute der Aktivposten des schottischen Fremdenverkehrs. Sie hat die Loch-Ness-Touristen derart im Griff, dass die wie gebannt aufs Wasser starren, anstatt die überaus reizvolle Landschaft zu genießen.
Auch die Presse hat dem Monster aus dem Loch viel zu verdanken: Die nachrichtenarme Zeit kann monströs überbrückt werden.
Übrigens: Die ersten Nessie-Sichter des Jahres 1933, Aldie und John Mackay, waren Inhaber des Drumnadrochit Hotels in Drumnadrochit. Drumnadrochit ist heute das Zentrum des Nessie-Tourismus.
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