Vor 50 Jahren fiel in München das Urteil im wohl berühmtesten Kriminalfall der bundesdeutschen Kriminalgeschichte. Die als "eiskalter Engel" dämonisierte Vera Brühne und ihr angeblicher Komplize Johann Ferbach wurden schuldig gesprochen, den Arzt Dr. Otto Praun und dessen Haushälterin Elfriede Kloo er- mordet zu haben. Doch der Prozess fußte auf falschen Zeugenaussagen, zweifelhaften Indizien und umstrittenen Gutachten.
Tausende drängeln sich vor dem festungsartig ausgebauten Münchner Schwurgericht. Die Innenstadt ist abgesperrt, der Verkehr zusammengebrochen. Selbst alte Frauen prügeln sich um freie Plätze im Gerichtssaal. Es gibt Verletzte. Wer nicht hineinkommt, will wenigstens einen kurzen Blick auf den "Teufel in Engelsgestalt" werfen, auf den "Vamp", die "Lebedame". Die Sensationspresse betreibt mit Überschriften wie "Nie sah ich so eiskalte Augen" oder "Luxus, Laster, Lügen" hemmungslos die Vorverurteilung der eleganten, souverän auftretenden Angeklagten.
Gut zwei Jahre zuvor, am 19. April 1960, dem Dienstag nach Ostern, hatte die Sprechstundenhilfe des Münchner Arztes Dr. Otto Praun vergeblich versucht, ihren Chef zu erreichen. Er war nicht in der Praxis erschienen. Am Abend fährt sie mit einem Freund zu Prauns Villa nach Pöcking am Starnberger See. Nach vergeblichem Klingeln betritt der Mann durch die offene Terrassentür das Haus und findet im Flur die Leiche des 65-jährigen Mediziners. Neben ihm liegt eine Pistole. Die Polizei stößt dann im Keller auf Prauns Haushälterin Elfriede Kloo (49). Sie starb durch eine Kugel im Genick, während dem Arzt in die Mundhöhle geschossen worden war.
Die Todesursache schien klar: Dr. Praun habe die Frau getötet und dann sich selbst. Als Suizidmotiv wurde Streit oder ein plötzlicher Anfall von "Schwermut" unterstellt. Haarsträubende Fehler bestimmen fortan die Tatortarbeit. Raumtemperaturen werden nicht gemessen, der Grad der Totenstarre nicht festgestellt. Man sucht nicht nach Fingerabdrücken oder Projektilen. Die Handlungen der Beamten gleiten ins Irrationale ab, als sie sich am Cognac des Getöteten gütlich tun. Dabei stoßen sie mit bereits benutzten Gläsern vom Esszimmertisch an. Ein Polizist exekutiert mit Prauns Pistole Haushund "Pitti".
Die Leichen werden bestattet. Als Todeszeitpunkt wird trotz dürftigster Indizien Gründonnerstag, der 14. April, 19.45 Uhr, festgesetzt. Der Sohn des Toten aber mag nicht an den Selbstmord seines Vaters glauben. Der lebenslustige Senior hatte kein Motiv, es ging im gut, sein Vermögen betrug rund 1,6 Millionen D-Mark. Allerdings soll er sich in der letzten Zeit bedroht gefühlt haben.
Im Oktober 1960 wird die Leiche exhumiert, die gerichtsmedizinische Untersuchung gerät zur Sensation: Gleich zweimal wurde dem Opfer in den Kopf geschossen. Und das heißt: Es war Mord. Doppelmord.
Frau mit "Herrenbekanntschaften"
Bereits zuvor, im August, war das Testament eröffnet worden. Darin festgeschrieben ein lebenslanges Nutzungsrecht für Vera Brühne an Prauns Villa an der Costa Brava. Sie war die letzte "Begleiterin" des für seine "Frauengeschichten" bekannten Arztes. Nach Angaben des Sohnes beabsichtigte der Vater, die Villa zu veräußern. Und hieraus erschloss sich das Mordmotiv der Vera Brühne: Die Ermittler unterstellten, sie habe ihren Chef umgebracht, um den Verkauf zu verhindern.
Vera Brühne, geboren 1910, verheiratet mit dem Schauspieler Hans Cossy (bekannt als Marschall Kublai Krim in der Fernsehserie "Raumpatrouille") bringt 1941 Tochter Sylvia zur Welt. Sie lernt den drei Jahre jüngeren Handwerker Johann Ferbach kennen, der ihr nach einem Bombenangriff in Köln das Leben rettete. Sie zieht nach München, hält aber den Kontakt mit Ferbach aufrecht. Nach zahlreichen Affären wird die Ehe geschieden. Sie heiratet den Filmkomponisten Lothar Brühne ("Kann denn Liebe Sünde sein") und trennt sich wieder. Weiterhin pflegt sie "Herrenbekanntschaften". Obwohl sie nicht arbeitet, verfügt sie über Immobilienbesitz. 1957 lernt sie Otto Praun kennen. Er schenkt ihr einen gebrauchten VW-Käfer und zahlt ihr monatlich 200 Mark. Angeblich für Chauffeurdienste. Praun überträgt ihr die Verwaltung der spanischen Finca.
Geplatzte Alibis
Die Mordermittler unterstellen nun Johann Ferbach, die Morde Vera Brühne zuliebe (aus sexueller Abhängigkeit) ausgeführt zu haben. Sie habe Schmiere gestanden. Für den "Tatzeitpunkt" hatten sich beide Alibis verschafft, die jedoch bald platzten. Vera Brühne und Johann Ferbach werden festgenommen.
Die Polizei hatte in der Pöckinger Villa einen Brief gefunden, verfasst von Otto Praun, gerichtet an Elfriede Kloo, datiert mit "Costa Brava, 18. September 1959". Das Schreiben kündigte den Besuch eines Kaufinteressenten für das spanische Anwesen an: "Dr. Schmitz aus dem Rheinland". Die Ermittler glauben nun, der Brief stamme in Wahrheit von Vera Brühne, und Ferbach und Schmitz seien ein- und dieselbe Person. Durch das Schreiben soll Frau Kloo veranlasst worden sein, den Mörder ins Haus zu lassen. Praun sei nämlich am Tattag erst spät nach Hause gekommen. Der Brief sei - so die Staatsanwaltschaft - auf der Maschine von Brühnes Untermieter getippt worden. Zur Untermauerung der These müssen zweifelhafte Schriftvergleiche herhalten, denn die Maschine war längst verschrottet. Gegen Vera Brühne spricht allerdings, dass sie häufig lügt, falsche Fährten legt und versucht, Zeugen in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Bei Prozessbeginn, am 25. April 1962, haben sich große Teile der Presse auf sie eingeschossen, auf die gierige, verruchte, und ungeachtet ihrer 52 Jahre sehr attraktive Frau. Eine, die sich als "Begleiterin" älterer Wirtschaftswundermänner eine goldene Nase "verdiente". In merkwürdiger Inkonsequenz argumentieren die Ankläger aber auch mit ihrer vorgeblichen Armut. Sie habe es eben nötig gehabt, zu morden. Erfundene Geschichten aus ihrem Intimleben werden durchgehechelt, freizügige Faschingsfotos auf den Boulevard geworfen.
Als Brühnes leicht beeinflussbare Tochter Sylvia einem gewieften Reporter erklärt, die Mutter habe ihr gegenüber den Mord zugegeben, und auch Ferbach nach Aussage eines Polizeispitzels "gestanden" haben soll, haben die Angeklagten verloren. Obwohl Sylvia ihre Aussage vor Gericht widerruft und der Spitzel sich als notorischer Lügner erweist, werden Ferbach und Brühne schuldig gesprochen: lebenslänglich Zuchthaus. Bei der Urteilsverkündung am 4. Juni 1962 verliert Vera Brühne doch noch die Contenance: "Aber ich bin doch unschuldig" ruft sie. Und sinkt in sich zusammen. Ferbach wirkt wie versteinert. Der Revisionsantrag wird abgelehnt. Der Philosoph Theodor W. Adorno analysierte den Indizienprozess (und den prüden Zeitgeist): "Latent spielt gewiss die unqualifizierte Vorstellung herein, dass einer Frau, die ein libertines Sexualleben führe, auch ein Mord zuzutrauen sei."
Jahre später erwies sich der unterstellte Todeszeitpunkt als falsch. Unabhängig voneinander hatten zwei Wissenschaftler neuartige Berechnungen über Leichenstarre und Raumtemperatur angestellt. Der Tod der Opfer konnte demnach frühestens am Abend des 16. April 1960 eingetreten sein. Zu dem Zeitpunkt hielt sich Brühne am Krankenbett ihrer Mutter in Bonn und Ferbach nachweislich in Köln auf.
Die Münchner Justiz bleibt davon unbeeindruckt. Acht Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens werden abgelehnt. Der unerklärliche Reichtum des ermordeten Kassenarztes aber gibt weiterhin Rätsel auf. Gerüchte machen die Runde, Praun sei als Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes in "krumme Sachen" verwickelt gewesen. Im September 1967 hatte der dubiose BND-Agent H. erklärt, er habe Praun gemeinsam mit den Kollegen Oberst R. und Oberstleutnant S. in Pöcking aufgesucht. Es ging um 300 000 Mark aus illegalen Waffengeschäften. Als Praun "Probleme" machte und zur Waffe griff, habe ihn S. kurzerhand erschossen (und, so muss man annehmen, Elfriede Kloo gleich mit).
Späte Begnadigung
Nun schwenkt die Presse um, geht mehrheitlich von einem Fehlurteil aus. Aber erst nach 18 Jahren hinter Gittern, Ende 1979, wird Vera Brühne begnadigt. Johann Ferbach war bereits 1970 in der Haft verstorben. Die in der öffentlichen Wahrnehmung vom "eiskalten Engel" zum Unschuldsengel Geläuterte starb am 17. April 2001 im Alter von 91 Jahren. Ihre Schuld aber bleibt bis heute genauso unbewiesen wie ihre Unschuld.
Das Mordopfer Dr. Otto Praun soll in Waffengeschäfte verstrickt ...
Das Mordopfer Dr. Otto Praun soll in Waffengeschäfte verstrickt gewesen sein, von Schmiergeld und Geheimdienstaktivitäten war und ist die Rede.
Die Begnadigung Vera Brühnes erfolgte 1979 durch den damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß (CSU). Er soll Brühne aus dem Aichacher Frauengefängnis geholt haben lassen, um weitere Nachforschungen in dem Fall zu verhindern.
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