Weihnachten

Wintersonne: Eine besondere Geschichte zu Weihnachten

Jedes Jahr veröffentlicht der "Mannheimer Morgen" an Heiligabend eine etwas andere Weihnachtsgeschichte. In diesem Jahr stammt der Text "Wintersonne"  von Anja Tuckermann. Illustriert wurde sie von Mehrdad Zaeri

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Illustration von Mehrdad Zaeri © Mehrdad Zaeri

Hier ist ein langsames Land. Alles geschieht zu seiner festen Zeit. Die Kirchenglocken läuten am Mittag um fünf vor zwölf und am Abend um fünf vor sechs fünf Minuten lang.

Die schwarze Katze im ersten Stock öffnet mit der Klinke die Wohnungstür und geht aus dem Haus. Im Parterre wohnen Neue. Das ist kein Ereignis, weil es niemandem besonders auffällt. Nur, dass ein Auto mit fremdem Kennzeichen auf der Straße steht, wird bemerkt.

Waren die syrischen Friseurmänner schon immer da?

Sinkt die Temperatur im späten Herbst gegen null Grad, kommt der Brunnenmeister und stellt das Wasser der städtischen Brunnen ab. Die Brunnenfiguren und die wasserspeienden Anlagen werden zum Schutz vor der Kälte in einen Holzmantel gehüllt.

Auch die zehn neuen Friseursalons, in jedem mindestens drei syrische Friseurmänner mit gezupften Augenbrauen und gelackten Haaren, erregen kein Aufsehen. Waren sie nicht schon immer da?

Von den Neuen in der Erdgeschosswohnung weiß man, weil Licht aus der Wohnung scheint. Der Nachbar, der jeden Morgen seine Fenster öffnet, sieht die Familie, einen Mann und ein Kind, manchmal eine Frau. Die Frau bewegt sich langsam, guckt und geht langsam. Der Mann legt auf der Straße den Arm um sie, das Kind nimmt ihre Hand und zieht die Frau zum Brunnen.

Schriftstellerin Anja Tuckermann. © Lamin Diallo

Die Frau ist eingehüllt in Liebe wie die Sandsteinfiguren in Holz, und es ist, als arbeiteten die Liebenden den ganzen Tag vergeblich um ihr ein Lächeln zu entlocken. Niemand bemerkt’s, bis auf den alten Nachbarn. Er hat ihnen schon alles erzählt, ob sie’s verstanden haben? Dass er zwei Mal verheiratet war und eine Freundin in seinem Alter hat, schon 83 Jahre. Dass er noch kernig sei, keine einzige Tablette.

Durch die Hosen pfeift der Wind

Und nun, da sie das Laub im Wind sich auf der Straße im Kreis drehen sahen, sang er: „Wenn das meine Mutter wüsste, wie´s mir in der Fremde ging! Schuh und Strümpfe sind zerrissen, durch die Hosen pfeift der Wind.“

„Durch die Hosen pfeift der Wind, stimmt, oder?“, sagte er zum Kind. Das Kind stand auf der Eingangstreppe und lachte leise, der Mann lächelte, aber die Frau schaute nicht einmal hin. Der Nachbar bemerkte es. Dass sie wohl die Augen auf hatte, aber nicht sah, was da um sie war.

Er sei neun Jahre alt gewesen bei der großen Flucht, die kleine Stadt sei nur noch von Geistern und Katzen bewohnt gewesen, alle geflohen. Nur ein Geisterzug habe noch am Bahnhof gestanden, die Mutter mit den Kindern hinein in den Zug und in der Kälte einfach da sitzen. Und plötzlich ruckelte der Zug und fuhr los. Zum Glück Richtung Westen, man habe sich aneinander gewärmt.

"Unsere Städte gehören zu einem anderen Land"

Mehr erzählte der Nachbar nicht, denn der Wind pfiff in die Hosenbeine. Wer weiß außerdem, wer ihn überhaupt verstand. Die Sonne war noch nicht untergegangen, der Wind zog die letzten Blätter von den Bäumen. Das Kind und der Mann standen höflich vor dem alten fröhlichen Mann, doch sie verstanden ihn nicht. Das Kind jedoch lernte jeden Tag die neuen Wörter in der Schule und vom alten Nachbarn. Bis es schneite und das Kind den Mann im Hausflur traf.

„Deine Mutter ist wohl traurig“, fragte er das Kind. Und es verstand.

„Ja.“

„Wie heißt du denn?“

„Maksym.“

„Willst du auch wissen, wie ich heiße?“

„Ja.“

„Ich heiße Walter. Wir konnten nie mehr zurück. In unsere Häuser zogen andere Leute ein, unser Städtchen gehört seither zu einem anderen Land. Ich glaube, sie essen noch von unserem Tisch, aber ihre Sprache verstehen wir nicht.“

Anja Tuckermann

  • Die Autorin: Anja Tuckermann, geboren 1961 in Bayern, ist in Berlin aufgewachsen, wo sie heute lebt. Sie arbeitete bei einem Treffpunkt für Mädchen, als Redakteurin beim RIAS Kinderfunk und ist seit 1992 freiberufliche Autorin. Sie schreibt Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Libretti für Erwachsene, Kinder und Jugendliche. Ihre Werke wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis.
  • Die Werke: Seit 1988 sind mehr als 50 Werke, Belletristik, Sachbücher, Dramen, Hörbücher und Musik-Text-Formate, erschienen. dms

Maksym verstand nur: nie mehr zurück. Er schaute verwirrt den Mann Walter an, blieb aber im Treppenhaus stehen.

„Und deine Mutter?“

Erstaunt schaute Walter auf das Kind, das eine komplette Frage gestellt hatte.

„Du fragst mich nach meiner Mutter?“

„Ja.“

Walter ging in seine Wohnung, kam mit einem Klapphocker mit Metallbeinen wieder. Der Hocker seufzte, als der Mann sich setzte und dabei die Luft aus dem Kunststoffpolster entwich. Maksym wartete.

Auf der Suche nach dem eigenen Zuhause

„In dem Haus, in das wir zugewiesen wurden, wohnte in jedem Zimmer eine Familie. Wir sind in einem langen schmalen Zimmer gelandet. Auf einer Seite drei Betten an der Wand entlang. Auf der anderen Seite die kahle Wand. Mein Vater liebte meine Mutter sehr. Er küsste sie jeden Tag. Er brachte etwas mit, Eier, Holz zum Heizen, manchmal eine Blume.“

Maksym hörte zu.

Walter war damals das Kind. Er war mehr draußen oder bei den Nachbarn und ging nur zum Schlafen ins Zimmer. Schwermütig nannten die Leute seine Mutter. Sie lag auf dem Bett und wollte nicht mehr aufstehen.

Der Vater sagte: „Mein Liebling, steh doch einmal auf.“

„Wozu?“, fragte sie.

Sie wollte in ihr eigenes Bett, ihr Zuhause mit dem grünen Sofa und dem Ölbild, das eine sonnenbestrahlte Waldlichtung mit Nebelschleiern vor dunklen Tannen zeigte. Zu ihrem schlesischen Tafelgeschirr und den Betttüchern ihrer Mädchenzeit. Zu ihrem Küchenschrank mit den vielen Glasscheiben und dem Küchentisch mit der dicken Eichenholzplatte, auf dem schon ihr Großvater das Brot geschnitten und die Familie Karten gespielt hatte. Sie war aus dem Nest gefallen.

"Wir bauen hier unser Leben neu auf"

Ihr Mann hatte sie aufgefangen, aber sie war dennoch aus dem Nest gefallen, genauso wie ihr Mann und das Kind. Sie konnten alle nicht fliegen.

Das Nest war für immer verloren, es lebten andere in ihrem Bett, auf ihrem Sofa, am Küchentisch und mit ihren Tüchern, ihrem Geschirr, sogar mit ihrem Kartenspiel. Das Nest war für immer unerreichbar. Sie konnten nicht fliegen, aber der Vater konnte stehen, die Mutter jedoch nicht. So lag sie in einer fremden Stadt in einem hässlichen Zimmer im Bett und war schwermütig. Der Vater küsste sie weiter jeden Tag, saß auf der Bettkante und streichelte sie - manchmal verlor er den Mut und ging hinaus. Wenn er wiederkam, hatte er etwas mitgebracht, so wie früher.

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Der Vater sagte zur Mutter: „Wir bauen hier unser Leben neu auf. Sieh mal, wir sind zusammen, wir können viel.“

Sie blieb liegen und der Mann wusste nicht, wie er sie zum Sprechen, Aufstehen und Lächeln bewegen könnte. Sie vermisste, was war und nie mehr so werden würde, wie es war. Weil es nicht mehr existierte.

Der Vater sprach von Hoffnung. „Bitte schau, bitte sprich, steh einmal auf, wir leben doch hier weiter. Die Sonne scheint.“

Da sagte die Mutter gehässig: „Sag doch Gott sei Dank, dass du jeden Tag gute Laune hast.“

"Hier scheint die Sonne nicht"

Der Vater wollte am Liebsten vor Wut irgendetwas zerhauen, wollte hinausrennen, die Tür zuschlagen und nie wieder kommen.

„Hier scheint die Sonne nicht“, sagte die Frau. „Das denkst du nur. Bei uns scheint die Sonne und es wird irgendwann Frühling, das ist ja das Komische.“

Der Vater legte sich ans andere Ende der Wand ins Bett und wollte auch nichts mehr. Außer vielleicht ganz allein weggehen. Doch er liebte seine Frau. Ihm fiel ein, dass sie auch ein Kind hatten, und so ein Kind möchte auch einmal die Eltern sprechen hören und nicht nur nicken sehen. Also sprach er mit Walter einiges, er verstand selbst nicht, was er sprach. Aber Walter verstand etwas. Und als der Vater am nächsten Tag ins Zimmer kam, wo die schwermütige Mutter im Bett lag, sah er, dass der Vater einen großen Topf mit schwarzer Farbe und einen dicken Pinsel mitgebracht hatte. Damit malte der Vater an die lange Wand zuerst ein Bild mit Tannen, einer Waldlichtung und einem verschnörkelten Rahmen drum herum. „Hier ist dein Bild“, sagte er. „Über dem Sofa.“ Und er malte unter das Bild das Sofa an die Wand. Neben das Bett, in dem die Mutter lag, malte er die Kommode mit dem ovalen Spiegel. Er sagte: „Und hier ist die Küche.“

Dann malte er den Küchenschrank mit den Glastüren, daneben zwei Stühle, davor schob er den Tisch und ihre Stühle.

„So“, sagte er. „Jetzt sind wir zu Hause. Hier ist das Schlafzimmer, hier das Wohnzimmer, hier die Küche, alles da.“

Da bemerkte Walter, wie die Mutter plötzlich aus sich hinaus schaute und die bemalte Wand betrachtete.

„So war das“, sagte der alte Walter zu dem Jungen Maksym.

„Und dann?“

„Dann ging es allmählich.“

„Ja?“

„Ja.“

Walter nahm seinen Hocker und kehrte in seine Wohnung zurück. Maksym stellte sich ans Bett seiner Mutter.

„Guck doch aus dem Fenster“, sagte er. Aber seine Mutter drehte sich nicht einmal um. Dem Vater sagte Maksym seinen Wunsch, der ging und kam mit kleinen Farbtöpfen zurück. Er steckte selbst den Pinsel in das rote Farbtöpfchen und begann an die Wand zu malen. Einen Wandteppich, darunter ein Sofa.

Als der Vater fertig und die Wand ganz bunt war, drehte die Mutter sich um und schaute. „Was tut ihr da?“

„Hier, Mama, hier ist unser Wohnzimmer“, sagte Maksym. „Und hier ist das Schlafzimmer.“

„Was macht ihr überhaupt?“, sagte die Mutter. „Was soll das?“

„Und hier ist die Küche.“

Die Mutter sah missmutig aus, sie setzte sich aber auf und schaute.

Frieden mit Sonne und Kirschbaum

Inzwischen malte der Vater neben den Wandteppich einen Baum. Maksym malte Kirschen hinein. Er nahm gelbe Wachskreide, stieg auf einen Stuhl und malte eine Sonne an die Wand.

„Hast du gesehen? Die Sonne scheint, siehst du? Da ist der Kirschbaum.“

„Aber der Baum steht doch nicht im Wohnzimmer, den sehen wir vom Fenster aus“, sagte die Mutter. Da malte der Vater ein Fenster vor den Kirschbaum und die Sonne.

„So. Jetzt kannst du rausgucken“, sagte er.

Die Mutter nickte und blieb sitzen, sie legte sich nicht wieder hin. Alle drei waren still.

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