Neuer Bundeskanzler

So richtig lernen wir Olaf Scholz erst noch kennen

Von 
Karsten Kammholz
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Mannheim. Die Eidesformeln sind gesprochen, die Tinte unter dem Koalitionsvertrag ist trocken. Nun also beginnt das wohl ambitionierteste und zugleich am wenigsten berechenbare politische Projekt der jüngeren deutschen Geschichte seit den wilden rot-grünen Schröder-Fischer-Jahren. Warum so unberechenbar? Nicht nur formal betritt mit der Ampelkoalition eine Dreierkonstellation den bundespolitischen Raum, die es bisher so in Berlin nicht gegeben hat.

Auch in ihrer personellen Ausgestaltung versprechen die kommenden vier Jahre munter zu werden. Die ehrgeizlose Notgemeinschaft der großen Koalition wird abgelöst von zumindest zwei Parteien, die das Land vom Mehltau befreien wollen.

Und die SPD? Olaf Scholz übernimmt die Führung des Landes in der schwerwiegendsten Krise der Nachkriegszeit. Wie es sich vor 16 Jahre mit Angela Merkel verhielt, wird es auch bei Scholz sein: So richtig lernen wir ihn erst in diesem Amt kennen. Je mehr er von seiner Politik erklären wird, je mehr er sich als Mensch in der Funktion zeigen wird, desto klarer wird hoffentlich, was ihn politisch und strategisch eigentlich von seiner Vorgängerin unterscheidet. Heute ist das noch nicht klar.

Im Wahlkampf hielt Scholz sich in allen Großthemen derart vage, dass schon Sekunden nach seinen Aussagen zu vergessen drohte, welche Haltung er jeweils eingenommen hatte. In diesem Stile zog Scholz im Übrigen auch die gemeinsame Pressekonferenz mit seinen Koalitionspartnern Robert Habeck und Christian Lindner am Vortag der Kanzlerwahl durch. Bloß nichts Falsches sagen, lautet die Devise, an die er sich auch in den kommenden Monaten halten wird. Man wird sich daran gewöhnen. Lieber ein Regierungschef, der wenig sagt, als einer, der nicht handelt.

Der vierte sozialdemokratische Kanzler Deutschlands wird so oder so keine sonderlich progressive Rolle im neuen Regierungsgefüge einnehmen. Sein Versprechen heißt Stabilität. Solide Renten haben für ihn einen politisch höheren Wert als etwa ein einschneidendes Handeln in der Klimapolitik. Die Reformkraft der Bundesregierung werden vorerst Grüne und FDP entfalten müssen. Veränderungswille hier, Sicherheitsdenken da. Kanzler Scholz wird das Land in eine Zukunft moderieren, in der große Linien kaum formuliert werden können, solange die Pandemie kaum kontrollierbar alle Bereiche des Lebens dominiert. Es ist ein Aufbruch in engen Grenzen. Scholz und seine Regierung sind vom ersten Tag an nicht zu beneiden.

Ehemalige Mitarbeit ehem. Chefredakteur

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