Politiker wie Alexander Dobrindt sprechen schon von einer drohenden „Klima-RAF“. Damit vergleicht der CSU-Mann die Aktivisten der „Letzten Generation“ mit Terroristen, die 34 Menschenleben auf dem Gewissen haben. Doch damit nicht genug: Der frühere SPD-Innenminister Otto Schily sieht auch nach den Razzien in der „Reichsbürger“-Gruppe keine Bedrohung, er spricht von einer „skurrilen Spinner-Truppe“.
Da ist irgendetwas im Diskurs verrutscht, deshalb noch einmal in aller Kürze die Sachlage: Die RAF hat Bomben eingesetzt, die „Reichsbürger“ haben Waffen für den geplanten Putsch gehortet - und die „Letzte Generation“ schmeißt Kartoffelbrei auf Gemälde hinter Glas.
Das eigene Versagen schmerzt offensichtlich
Deshalb ist es schäbig, wie Politiker die Aktivisten kriminalisieren, nur weil diese nicht mehr so nett sind wie die Schulschwänzer-Kiddies von Fridays for Future. FDP-Chef Christian Lindner hat sich dieser Tage in Rage geredet und die „Letzte Generation“ als „brandgefährlich“ bezeichnet, weil diese der Mehrheit vorschreiben würde, was sie zu tun habe. Das stimmt nicht, ist aber insofern putzig, weil das die FDP seit jeher als kleinerer Partner in jeder Regierung so macht.
Offensichtlich erträgt es das politische Establishment nicht, dass ihm die Aktivisten gleichsam den Spiegel vorhalten, in dem die Amtsträger ihr eigenes Versagen beim Klimaschutz sehen können. Das schmerzt sie offensichtlich so sehr, dass sie krass überreagieren.
Das gilt seltsamerweise auch für manche der alten weißen Frauen und Männer bei den Grünen, die vor grauen Urzeiten für sich das Recht auf zivilen Ungehorsam in Anspruch genommen haben. Sie gingen dabei nicht zimperlich vor, haben sich an Gleise angekettet, um Castor-Atommülltransporte zu blockieren. Der Pflasterstein gehörte damals zur schärfsten Waffe eines späteren Außenministers, dessen Turnschuhe im Museum gelandet sind.
Gerade die Grünen sollten sich solidarisieren
Dass jetzt Größen der Partei mit dem Öko-Siegel wie zum Beispiel Claudia Roth die Proteste der „Letzten Generation“ als „dumm“ bezeichnen, gefährdet auch den grünen Markenkern. Die Grünen haben sich schon immer über ihren Ursprung aus der Umweltbewegung definiert. Und da gab es auch immer unterschiedliche Formen des Protests. In letzter Zeit hat sich aber der Eindruck verfestigt, dass Partei und Klimaschützer nicht mehr im Gleichschritt marschieren. Selbst bei Fridays for Future dürfte es kein Verständnis dafür geben, dass die Grünen einem Koalitionsvertrag zugestimmt haben, in dem auf Druck der FDP steht: „Kein Tempolimit!“
Dass die „Letzte Generation“ jetzt eben ein solches Tempolimit und die Rückkehr des 9-Euro-Tickets fordert, ist weder radikal noch extremistisch. Man kann über die Klebeaktionen auf den Straßen geteilter Meinung sein, aber für die Dauerstaus sind sie nicht verantwortlich. Auch bei den angeblichen Straftaten sollte man aufpassen. Es handelt sich um Sachbeschädigung, selbst der Vorwurf der Nötigung ist umstritten.
Warum habt ihr nichts getan?
Bisher gibt es einen Haufen politischer Vorverurteilungen, aber keine rechtskräftigen Urteile. Es ist auch nicht erwiesen, ob die „Letzte Generation“ eine kriminelle Vereinigung ist, auch dieser - eher absurde - Verdacht muss der Rechtsstaat erst noch beweisen. Dass aber die Justiz das Demonstrationsrecht aushebelt, indem sie Aktivisten in Präventivhaft schickt, ist ein Skandal. Im Freistaat geht das sogar bis zu 30 Tage.
Der Staat trifft mit solchen Aktionen allerdings den Nerv der Bevölkerung. Die große Mehrheit lehnt die „Letzte Generation“ ab. Aber die Politik muss wissen: Die Menschen sind vergesslich. Sie wollen jetzt zwar ihre Ruhe haben. Nach einem zweiten Ahrtal werden sie der Politik aber empört zurufen: Warum habt ihr nichts getan?
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Die Politik kriminalisiert die "Letzte Generation"
Die "Letzten Generation" wird von Politikern mit RAF-Terroristen verglichen. Damit wird eine Gruppe kriminalisiert, die Straßen blockiert, aber keinen Umsturz plant. Eine Einordnung unseres langjährigen Politik-Redakteurs Walter Serif