Main-Tauber-Kreis. Das Telefon klingelt. Eine Frau ist dran. Ihre Freundin sei von häuslicher Gewalt betroffen. Sie wolle wissen, wie sie ihr helfen kann. Bei Saskia Emmenecker schrillen sofort alle Alarmglocken. Denn in den meisten Fällen wollen sich diese Frauen nicht für eine Freundin informieren, sondern sind selbst Opfer von häuslicher Gewalt. Sie trauen sich aber nicht, darüber zu sprechen. Und das meist aus Angst, dass der Partner oder Ehemann etwas mitbekommen könnte.
Wenn sie von ihrer Arbeit erzählt, spricht die Leiterin des Frauen- und Kinderschutzhauses immer wieder von „Gefahr im Verzug“, die in einer solchen Situation herrscht. Der Begriff bezieht sich auf einen Zustand, bei dem nur durch sofortiges Eingreifen eine drohende Gefahr oder ein Schaden abgewendet werden kann. Es muss also gleich gehandelt werden, um die Frauen und Kinder in Sicherheit zu bringen. Das ist nämlich die Hauptaufgabe des Frauen- und Kinderschutzhauses des Neckar-Odenwald- und Main-Tauber-Kreises – den Betroffenen Schutz und Sicherheit bieten.
Als ein Bewaffneter kam
Wo sich die Einrichtung befindet, ist aus Sicherheitsgründen streng geheim. Deshalb findet das Gespräch zu dieser Reportage auch auf neutralem Boden statt. Und dennoch kommt es immer wieder vor, dass die Täter herausfinden, wo sich die Frauen aufhalten. „Den Opfern werden beispielsweise Tracking-Apps auf ihren Smartphones installiert – ohne das sie etwas davon wissen“, sagt Saskia Emmenecker, die sich an ein Ereignis zurückerinnert: „Eines Tages stand ein Mann mit einer Waffe vor unserer Türe.“ Das sei auch ein Grund dafür, warum nur die Mitarbeiterinnen die Haustüre öffnen dürfen. Man wisse nie, wer davor steht.
Blick in die Statistik
Das Frauen- und Kinderschutzhaus des Neckar-Odenwald-und Main-Tauber-Kreises bietet Platz für drei Frauen und fünf Kinder. Insgesamt stehen so acht Betten zur Verfügung. Derzeit ist das Haus voll belegt. Aus Sicherheitsgründen ist die Adresse geheim.
Frauen ab 18 Jahren können mit ihren Kindern (Jungen bis 14) dort aufgenommen werden. Die älteste Dame, die im Haus Schutz gesucht hat, war laut Leiterin Saskia Emmenecker 72 Jahre alt.
Über die durchschnittliche Aufenthaltsdauer lässt sich keine allgemeingültige Aussage treffen. Von einer Nacht bis zu fast einem Jahr sei alles möglich, so Emmenecker.
Im Frauen- und Kinderschutzhaus sind derzeit drei Mitarbeiterinnen beschäftigt, verteilt auf 1,4 Stellen. Unterstützt werden sie von ehrenamtlichen Helferinnen, die Bereitschaftsdienste in der Nacht übernehmen.
Während der Corona-Pandemie habe man keinen signifikanten Anstieg erkennen können. „Unsere Plätze waren auch vor der Pandemie meist alle belegt“, sagt die Einrichtungsleiterin. Stark zugenommen hat in den vergangenen beiden Jahren aber die telefonische Beratung.
In der Polizeilichen Kriminalstatistik des Polizeipräsidiums Heilbronn wurden unter dem Stichwort „Partnergewalt“ für den Neckar-Odenwald-Kreis im vergangenen Jahr 143 Fälle erfasst. 2020 waren es 135. Das entspricht einem Anstieg von 5,9 Prozent. Für den Main-Tauber-Kreis wurden 2021 133 erfasste Fälle gemeldet, das sind fünf mehr als im Vorjahr.
Die Statistik zeigt, dass die Zahl der erfassten Fälle seit 2017 stetig zugenommen hat – in allen Stadt- und Landkreisen des Polizeipräsidiums Heilbronn. Landesweit ist im vergangenen Jahr ein leichter Rückgang von 4,2 Prozent zu erkennen: 2020 wurden 13 819 Fälle von Partnergewalt gemeldet, 2021 waren es noch 13 234. mg
Der Job, den die Leiterin des Frauen- und Kinderschutzhauses und ihre Kolleginnen machen, verdient größten Respekt. Sie bringen täglich sich, und dadurch auch ihre Familien in Gefahr. Umso wichtiger ist es, zuhause abzuschalten. „Man muss das lernen, sonst zerbricht man“, sagt Saskia Emmenecker, die eine Offizierslaufbahn bei der Bundeswehr eingeschlagen und dort Pädagogik studiert hat. Doch gerade wenn Kinder mit im Boot sind, die vom Vater oder dem Partner der Mutter Gewalt erfahren, sei das umso schwieriger.
Die Mitarbeiterinnen unterstützen die Betroffenen in allen Dingen, die sie brauchen, beispielsweise bei der Bürokratie. „Viele kommen zu uns und haben weder EC-Karte noch Versichertenkarte dabei. Das muss dann alles neu beantragt werden“, erzählt die Einrichtungsleiterin. Die Frauen sind aber auch da, um zuzuhören. „Es gibt Opfer, die wollen reden, andere wollen erst einmal in Frieden gelassen werden und im Haus zur Ruhe kommen“, weiß Saskia Emmenecker. Die Gewalt, die die Frauen und Kinder zuhause erfahren haben, ist vielschichtig. „Die wenigsten kommen mit einem blauen Auge zu uns“, sagt sie. Gewalt sei noch viel mehr als körperliche Gewalt. Besonders schlimm sei die psychische Gewalt. Denn im Gegensatz zu körperlichen Wunden heilen die seelischen Verletzungen nur schwer. Und einen Platz beim Psychotherapeuten zu bekommen, sei quasi unmöglich.
In die Welt eintauchen
Im vergangenen Jahr hat die Einrichtung 32 Frauen aufgenommen, davon sind sechs wieder zurück zum Täter. „Das sind immer noch sechs zu viel, aber es zeigt, dass unsere Arbeit etwas bringt“, betont Saskia Emmenecker. Und die Frauen, die zurückkehren, wissen, wo ihnen geholfen wird. Es gebe auch Betroffene, die vier oder fünf Mal ins Frauen- und Kinderschutzhaus kommen, bevor sie den Absprung schaffen. Und jeder Aufenthalt sei anders. „Man muss jedes Mal neu in die Welt der Frauen und Kinder eintauchen“, sagt die Pädagogin. Wie lange die Betroffenen dort bleiben, sei unterschiedlich. „Wir hatten ein Opfer, das fast ein Jahr bei uns war.“
Die Frauen sollen in der Einrichtung so selbstständig wie möglich bleiben. Das ist das Ziel. Sie kochen für sich und die Kinder, gehen einkaufen. Die gewisse Eigenverantwortung ist eines der „Kriterien“, die erfüllt werden müssen, damit die Betroffene im Haus aufgenommen werden kann. „Wir können beispielsweise keine suchtkranken oder suizidgefährdeten Frauen aufnehmen. Sie könnten sich und andere in Gefahr bringen“, sagt Saskia Emmenecker. Außerdem dürfen keine Jungen, die älter sind als 14, aufgenommen werden. Hier bestehe die Gefahr, dass sich andere Frauen aufgrund des maskulinen Erscheinungsbilds in diesem Alter bedroht fühlen.
Gewalt gegen Frauen
Die UN-Generalversammlung hat am 17. Dezember 1999 eine Resolution verabschiedet, nach der der 25. November zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen bestimmt wurde. Alljährlich soll mit dem Gedenktag das öffentliche Interesse auf die Gewalt gegen Frauen gelenkt werden. Das ist auch der Anlass für diese Reportage.
365 Tage im Jahr, rund um die Uhr kostenfrei erreichbar: Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ bietet Betroffenen die Möglichkeit, sich zu jeder Zeit anonym und kompetent beraten zu lassen. Qualifizierte Beraterinnen vermitteln Hilfesuchenende bei Bedarf an Unterstützungsangebote vor Ort. Das Hilfetelefon ist unter 08000/116016 zu erreichen. Außerdem gibt es Informationen unter www.hilfetelefon.de. Dort kann man sich auch online und per Sofort-Chat beraten lassen. Auch Angehörigen und Freunden sowie Fachkräften steht das Hilfetelefon für Fragen und Informationen zur Verfügung.
Die Mitarbeiterinnen des Frauen- und Kinderschutzhauses des Neckar-Odenwald- und Main-Tauber-Kreises erreicht man direkt unter Telefon 06261/842222. Mehr dazu findet man auf der Homepage des Landratsamtes unter www.neckar-odenwald-kreis.de unter dem Reiter „Service“ und „Beratungsstellen“.
Zur Unterstützung des Frauen- und Kinderschutzhauses wurde vor über 20 Jahren ein Förderverein gegründet. Der Förderverein trägt sich über Mitgliedsbeiträge und Spenden. Informationen gibt es auf der Homepage unter www.foerderverein-fksh-nok.de im Internet. mg
Die Aussage, dass meist junge, ausländische Frauen von häuslicher Gewalt betroffen sind, treffe laut Saskia Emmenecker so nicht zu. „Wir haben Frauen und Kinder aus den unterschiedlichsten Altersklassen und Gesellschaftsschichten aufgenommen – von der Mittellosen bis zur selbstständigen Friseurmeisterin“, sagt die Pädagogin. Die älteste Dame, die in der Einrichtung Schutz gesucht hat, sei 72 Jahre alt gewesen.
Der Rat: Anzeige erstatten
Häusliche Gewalt bedeute auch nicht immer nur Gewalt in der Partnerschaft, sondern auch im Haushalt. Es habe schon Fälle gegeben, in denen junge Frauen in die Einrichtung gekommen sind, die zuhause von beiden Elternteilen Gewalt erfuhren. Die Mitarbeiterinnen des Frauen- und Kinderschutzhauses versuchen die Betroffenen immer dahingehend zu beraten, bei der Polizei Anzeige gegen den Täter zu erstatten. „Das machen aber nur die wenigsten“, weiß Emmenecker.
Das Frauen- und Kinderschutzhaus bietet derzeit Platz für drei Frauen und fünf Kinder. Es stehen so insgesamt acht Betten zur Verfügung. „Wir brauchen mehr Plätze, die wir aber nicht haben“, betont die Pädagogin. Aufgrund der Anonymität sei es auch nicht so einfach, an- oder umzubauen. Die Mitarbeiterinnen bieten jedoch auch telefonische Beratungen an. „Besonders während Corona haben wir einen erhöhten Bedarf gespürt“, erläutert sie.
Die Frauen seien durchweg dankbar für diese Einrichtung und die Hilfe, die sie erhalten. „Wenn sie dann in eine eigene Wohnung ziehen, können sie einen neuen Lebensabschnitt starten“, betont Saskia Emmenecker. „Hinschauen ist die Lösung, nicht wegschauen.“
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