Wenn Frederick Reitlinger in seiner Wannsee-Villa zur Soiree bittet, ist der Archäologie-Professor für ein paar Stunden glänzender Mittelpunkt einer längst verloren geglaubten großbürgerlichen Geselligkeit: Kollegen geben sich die Ehre, zuweilen stellen sich Prominente aus dem Kulturleben ein, oder es wird vierhändig auf dem Flügel vorgespielt. Verlässlich umkreisen stets Reitlingers beide Assistenten den akademischen Patriarchen, mit gebildetem Smalltalk um seine Gunst buhlend.
Jenseits dieser bildungsbürgerlichen Inszenierungen absolviert der Hochschullehrer ein weniger glanzvolles Privatleben. Ehefrau Nora vergnügt sich mit einem intellektuell kaum satisfaktionsfähigen Hotelmanager: erst im heimischen Fitnesskeller, dann, des sportiven Kitzels wegen, auf einem Wannsee-Hausboot. Zudem kann der Professor auch seine beiden erwachsenen Kinder nicht gerade als wohlgeratenen Nachwuchs ausstellen. Seinen Sohn hält er für einen „neoliberalen Gierschlund“; der hat sich gerade mit windigen Start-ups in eine ausweglose Finanzkrise manövriert – jetzt bleibt ihm eigentlich nur noch das Untertauchen übrig.
Irritierende Begegnung vor der Tür
Die noch im Elternhaus lebende 19-jährige Tochter Alisha studiert Politikwissenschaft und ist für diesen Familienhintergrund eindrucksvoll ungebildet. Sie plappert radikalfeministische Phrasen nach, vor allem um ihre lebenspraktische Unerfahrenheit zu kaschieren. Die Metoo-Kampagne hat sie für sich zu einem privaten Feldzug radikalisiert: Ohne jeden Anhaltspunkt unterstellt sie Männern, sie missbrauchen zu wollen. Ihre sexuelle Identität glaubt sie in der lesbischen Liebe zu ihrer Potsdamer Freundin Caro gefunden zu haben. Die aber holt sich lieber Männer ins Bett – zur Aufbesserung ihres Stipendiums auch mal über einen Escort-Service. Dessen Dienste wiederum nimmt auch einer von des Professors Assistenten in Anspruch. Wie es der dumme Zufall will, trifft die darob vollends irritierte Alisha vor Caros Tür auf diesen Freier – eine Begegnung mit fatalen Folgen.
Wer angesichts dieser Figurenkonstellationen geglaubt haben sollte, in einen unterhaltsamen Gesellschaftsroman geraten zu sein, sieht sich bald getäuscht. Die Geschichte funktioniert wie eine Vorabend-Serie: Alles kommt, wie man es erwartet hat. Gewiss, Helmut Krausser erzählt wieder gewohnt süffig und erweist sich dabei als begnadeter Stimmenimitator. Er leiht sein schadenfrohes Ohr dem vornehmen Parlieren, in dem die feinen Leute ihre privaten Probleme beschweigen. Er weiß bis in den Sprachrhythmus hinein, wie die jungen Leute bei ihrer elektronischen Kommunikation zwitschern.
Dieser Autor verfügt nach wie vor über ein beachtliches Fabuliervermögen, aber er scheint sich in diesem Roman seiner Versiertheit allzu sicher zu sein. Allwissend und um keine flotte Phrasierung verlegen, setzt der Erzähler seinen Lesern ein Figurenensemble vor, für das man kaum Interesse aufbringt – gerade weil alles ausbuchstabiert wird, was diese Klischeeträger umtreibt: Geld- und Sexgier, Eifersucht und Geltungsstreben.
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