Aussterbende Arten, versunkene lnseln, zerstörte Gemälde, verschollene Manuskripte – Natur- wie Kulturgeschichte sind gezeichnet von Verlusten. Vieles scheint nur als Ruine, Fragment oder vage Erinnerung die Zeiten zu überdauern. Dieser Befund kann einen, erst recht im Blick auf die eigene Vergänglichkeit, melancholisch machen. Er kann auch zum Anlass werden, das Verschwundene im Erzählen aufzubewahren. Wenn man das so überlegt angeht wie Judith Schalansky in ihrem Buch, können auch Verluste zum Gewinn an Weltkenntnis führen.
Zwölfmal erkundet die Autorin, welche Geschichten sich über Verlorenes erzählen lassen. Da erlebt man etwa, wie ein Exemplar der ausgestorbenen Gattung des Kaspischen Tigers in einer römischen Arena gegen einen (ebenfalls ausgestorbenen) Berberlöwen kämpfen muss – eine an Felix Dahns historische Romane erinnernde Szenerie. In einem anderen Stück werden die wenigen Fragmente, die von Sapphos Liebesliedern erhalten sind, zum Anlass einer Erkundung über die Fantasien beflügelnde Macht der Leerstellen; in diesem Fall sind es (männliche) Fantasien über die Liebe zwischen Frauen. Mit bewundernswerter Geläufigkeit bewegt sich Schalansky zwischen Epochen, Genres und Tonfällen. Autobiografische Erinnerungen an eine DDR-Kindheit in den 1980er Jahren wechseln ab mit historischen Traktaten; biografische Montage steht neben naturphilosophischer Spekulation. Das Gedenken an Caspar David Friedrichs verbranntes Bild des Hafens von Greifswald führt zu einer poetisch dichten Katalogisierung von Flora und Fauna der Moorlandschaft rund um den natürlichen Zufluss dieses Hafens.
Wem solche Exerzitien zu meditativ erscheinen, kann sich in einem anderen Text nach Manhattan entführen lassen: Greta Garbo, verschnupft und übelgelaunt, irrt durch die Straßen; obsessiv kreist ihr innerer Monolog um verpasste Gelegenheiten, Verluste und das sich abzeichnende Ende ihrer Karriere sowie Erinnerungen an den Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau. Dessen verschollener Film „Der Knabe in Blau“ gibt den Verlust-Anlass dieser Short Story ab, die sich im Erzählduktus den schnoddrigen New Yorker Tonfällen angleicht, wie man sie von Dorothy Parker kennt. Ein paar Stücke weiter landet man in der jüngeren Vergangenheit: beim abgerissenen Palast der Republik. Der Repräsentationsbau der DDR wird zum Nebenschauplatz einer Alltagsgeschichte, in der das zermürbende Klein-Klein des Lebens unterm Realsozialismus kenntlich wird, formal wie thematisch eine Anknüpfung an Schalanskys Roman „Der Hals der Giraffe“. Diese Autorin beherrscht wie wenige aus ihrer Generation die Kunst der Anverwandlung von Genres und den virtuosen Wechsel der Sprachregister. Man ahnt, wie viel Archiv- und Recherche-Arbeit in diesen Erkundungen steckt.
Sie erstrecken sich vom babylonischen Religionsstifter Mani über den von Ruinen besessenen Architekturmaler Piranesi bis zum Tessiner Art brut-Künstler und Enzyklopädisten Armand Schulthess. Tief taucht die Erzählerin in das jeweilige historische Material ein. Dennoch kommt diese Prosa schlackenlos leicht daher. Hier werden die gehobenen Schätze mit Sprachzauber und Fabulierlust in einer verführerischen Prosa präsentiert, wie man sie lange nicht mehr lesen konnte (zuletzt vielleicht bei W.G. Sebald).
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