Mannheim. Mit „Drei Kameradinnen“ hat Shida Bazyar aus dem rheinland-pfälzischen Hermeskeil nicht nur einen Roman geschrieben, dessen Erfolg mit der Platzierung auf der Longlist des Deutschen Buchpreises dokumentiert ist. „Drei Kameradinnen“ ist in Mannheim nun auch das „Buch der Stadt“. Es steht damit im Mittelpunkt der Aktion „Mannheim liest ein Buch“, die von der philosophischen Fakultät der Universität, dem Nationaltheater sowie Stadtbibliothek, Schulen und städtischen kulturellen Einrichtungen in diesem Jahr zum dritten Mal initiiert wird. Zum Auftakt las Shida Bazyar aus ihrem Gegenwartsroman, der sich nach Auffassung der Jury mit Themen befasst, die auch in der Mannheimer Stadtgesellschaft aktuell sind.
Fassungslosigkeit und Bestürzung werden ästhetisch bewältigt
Bazyars Nachfolger von „Nachts ist es leise in Teheran“ sei „drängend aktuell“, befand der Mannheimer Literaturwissenschaftler und Jurymitglied Thomas Wortmann. Der Roman behandle Phänomene aus den Bereichen Rechtspopulismus, Rassismus, Gewalt, Sexismus und Migration, setze aber nicht auf einfache Antworten. Vielmehr würden unterschiedliche Sichtweisen aus der Perspektive der drei Kameradinnen Saya, Hani und Kasih durchgespielt. „Eindeutig ist hier nichts“, machte Wortmann in der Aula der Universität auf die literarische Komplexität des Romans aufmerksam.
Wortmanns Kollegin, die Germanistin Sandra Beck, deklarierte das Buch als ein Beispiel für „wütende Literatur“ einer weiblichen Autorin; Fassungslosigkeit und Bestürzung würden ästhetisch bewältigt. Tatsächlich bekannte sich Shida Bazyar im Gespräch zu einer gewissen Form der Rebellion nicht nur gegen gesellschaftliche Verhältnisse, sondern auch gegen die Normen des Literaturbetriebs, in dem sich die weibliche Wut in der Regel bagatellisiert finde und es daher schwerer habe, sich zu artikulieren. In „Drei Kameradinnen“ scheint es der Autorin gelungen zu sein, jener Fassungslosigkeit und Bestürzung, von denen Beck sprach, Ausdruck zu verleihen.
Weil sie eines islamistischen Anschlags bezichtigt wird, landet eine der Protagonistinnen im Gefängnis. Eine fingierte Pressemeldung macht den Vorgang öffentlich. Sexismus und Rechtsextremismus bilden eine toxische Mischung, die die Beteiligten in einen Strudel der Gewalt zu reißen droht. Im Hintergrund steht ein NSU-ähnlicher Prozess; und doch konstruiert die Autorin keinen Konflikt zwischen zwei Fronten.
Vielmehr verlaufen die Konfliktlinien quer durch die Lager. Sie trennen nicht etwa migrantische und nichtmigrantische Milieus voneinander, sondern decken auch gesellschaftliche Klassenunterschiede auf. Diese würden in der Realität aber häufig nicht wahrgenommen; stattdessen entstünden reflexhafte Unterteilungen in Herkünfte. „Ich dachte, wir wären weiter“, bekundete Bazyar im Gespräch. Im sozialen wie im literarischen Genre erkannte sie diesbezüglich „Aufholbedarf“.
Literatur als Medium, das neue Denkwege eröffnet
Vor dem zeitgeschichtlichen Horizont dieses Romans ragen unterdessen der islamistische Terroranschlag auf das New Yorker World Trade Center vom 11. September 2001 sowie der anschließende Feldzug gegen den Irak hervor. Gewalt scheint auf beiden Seiten ungerechtfertigt und als untaugliches Instrument, Konflikte zu bereinigen.
Die Freundschaft zwischen den drei Frauen bewährt sich zum einen als wehrhaftes Konstrukt gegen gesellschaftliche Zumutungen, zum anderen dürfte ein solch triadisches Bündnis auch nur eine schöne Utopie sein, räumte die Autorin ein. In real existierenden patriarchalischen und sexistisch unterhöhlten gesellschaftlichen Strukturen hätte ein solcher Zusammenschluss keine Chance, wie Shida Bazyar als Vierte im Bunde der Kameradinnen kritisch anmerkte. Das Vermögen von Literatur bestehe allerdings darin, solche Missverhältnisse kenntlich zu machen. Sie schaffe Räume für Empathie und Verständnis, sei also im besten Fall geeignet, als defizitär erkannte Verhältnisse zu verändern.
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Bazyars Buch wird nun im Schulunterricht und in Lesekreisen, in Seminaren, Workshops und Podiumsdiskussionen behandelt. Universität, Nationaltheater, Stadtbibliothek, der Raum für Gegenwartskunst PORT 25 und die Kunsthalle laden bis 1. Dezember zu einer Vielzahl von Veranstaltungen ein. Die Hoffnung wird dabei vor allem auf junge Leserinnen und Leser gesetzt, denen Literatur als Medium vermittelt werden soll, das aktuelle Entwicklungen aufnimmt und neue Denkwege eröffnet.
Dass der Schulunterricht „nicht so der Wohlfühlort“ sei, räumte Shida Bazyar vor dem Auditorium mit Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden ein. Schule gelte als „Ort der Regeln“; doch mit ihrem Roman wolle sie zeigen, „dass man das schreiben kann, wovon man sagt, dass man es nicht kann“. Formen aufbrechen, Erwartungen enttäuschen: das „Buch der Stadt“ lässt sich als künstlerisches Produkt bezeichnen, das die Ghettoisierung von Existenzen problematisiert und sich zugleich der Festlegung auf Stil und Form entzieht. „Wütende Literatur“ also. Aber eine Wut, die sich weder auf die eine noch auf die andere Seite schlägt. Sie fordert von Lesenden nur eines: Hinhören.
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