Kaum jemandem ist dieses Ereignis gegenwärtig, das der südafrikanische Journalist und Schriftsteller Fred Khumalo in seinem neuen Roman „Bevor wir sterben tanzen wir“ thematisiert: der Untergang des Passagierschiffes SS Mendi am 21. Februar 1917 im Ärmelkanal. Seinerzeit war dieser Untergang großes Thema in den Medien, kamen dabei doch 636 Menschen ums Leben – Kriegsfreiwillige aus Südafrika zumeist, sowie Offiziere aus Europa.
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Herr Khumalo, wie sind Sie denn auf diese Geschichte des Untergangs der SS Mendi gestoßen? Es ist doch ein vergessenes Drama . . .
Fred Khumalo: Die Geschichte der SS Mendi war niemals Thema in einem der Geschichtsbücher, die wir in der Schule lasen. Aber in unserer schwarzen Gemeinde haben wir unsere eigene orale Geschichtsschreibung. Und so war auch die Geschichte der SS Mendi Teil dieser Tradition und wurde von Generation zu Generation weitergetragen, weitererzählt. Und tatsächlich gibt es einen sehr berühmten Komponisten, Jabez Foley aus Grahamstown, der darüber ein sehr schönes, gut komponiertes Lied schrieb. In der Schule sangen wir dieses Lied, und so hörten wir vom Untergang der SS Mendi. Aber uns war nicht klar, dass das tatsächlich vorgefallen war, wir dachten, das sei nur ein Lied, eine Idee des Komponisten.
Ja und wie weiter?
Khumalo: Im Jahr 2003 reiste ich als Journalist mit zwei Kollegen aus Südafrika nach Frankreich. Es ging um ein Thema, das wir in Zusammenarbeit mit dem französischen Außenministerium bearbeiteten. In unserer Freizeit wollte uns unser französischer Betreuer und Chauffeur namens Thierry etwas zeigen. Er stieg mit uns in den Zug, und wir fuhren von Paris an die Küste, nach Dieppe. Dort wartete ein Wagen auf uns und wir fuhren zu einem Friedhof. Wir gingen über den Friedhof, und uns fielen sofort die afrikanischen Namen auf: Zulu-Namen, Xhosa-Namen, Sotho-Namen. Und Thierry erklärte, dass während des Ersten Weltkriegs Männer aus Südafrika hierhergekommen waren, 25 000 Männer, die hier angesiedelt worden waren; manche hier seien eines natürlichen Todes gestorben, manche im Krieg gefallen. Manche von ihnen seien Überlebende des Untergangs der SS Mendi.
Daraufhin schrieben Sie das Buch?
Khumalo: Ich schrieb Texte für meine Zeitung daheim. Ein paar Wochen später schrieben Leser Briefe an die Zeitung, etwa dass ihr Großvater im Krieg in Europa gefallen sei. Ein anderer schrieb, dass er während des Studiums ein Stipendium erhalten habe, das mit Geld von Kriegsveteranen angelegt worden war, die sich nach dem Krieg dafür engagierten, dass junge Menschen aufs College oder zur Universität gehen konnten: das SS Mendi Stipendium. Ich wusste nichts von einem SS Mendi-Stipendium. Und so verdichtete sich das Thema, und ich fühlte mich ermutigt, die Artikelserie als Grundlage für ein Buch zu nehmen.
Das Buch liest sich weder wie eine Reportage noch wie ein historischer Roman. Wie gingen Sie vor?
Khumalo: Das Buch liest sich mehr als Thriller, als Kriminalliteratur, und das war meinerseits genauso beabsichtigt. Viele historische Romane entrollen ihre Handlung eher langsam, lesen sich trocken und fast wie Geschichtsbücher – das versuchte ich zu vermeiden, denn diese Geschichte ist sehr dramatisch. Und ich wollte die Stimmung dieses Dramas wiedergeben.
Und daher auch diese dramatische Szene, als die Soldaten im Angesicht des Todes tanzen?
Khumalo: Den mündlichen Überlieferungen entsprechend hat der Kaplan an Bord des Schiffes, Reverend Dyobha, im Grunde der Anführer der Schwarzen Menschen auf dem Schiff, dazu aufgerufen, als er begriff, dass sie alle sterben würden. Der Tradition der Xhosa und der Zulu zufolge ruft oder schreit man selbst im Moment des Sterbens etwas Heroisches. Dieser Tradition folgend rief er zum Tanz auf. Einer der Überlebenden der SS Mendi, Stimelo Jason Jingoes, wurde nach seiner Rückkehr aus dem Krieg als Gewerkschaftsführer in Johannesburg berühmt. Er schrieb eine Autobiografie, und darin schildert er auch den Untergang der SS Mendi, wie er ihn als Augenzeuge erlebte – und er schreibt auch von dem Tanz. Dieses Bild ist also authentisch, keine Erfindung meinerseits. Eine sehr dramatische Szene, weshalb der Titel des Romans darauf anspielt.
Gab es noch weitere Quellen, auf die Sie sich stützen konnten?
Khumalo: Ich fuhr zum Militärarchiv nach Simon’s Town nahe Kapstadt, und tatsächlich sind dort die Namen all der 25 000 Männer verzeichnet, die damals nach Frankreich gingen – darunter die Namen der Männer auf der SS Mendi. Und dann waren da die Zeitungen, die damals über den Untergang der SS Mendi schrieben – darin ist geschildert, wie sich der Untergang abspielte. Dazu gibt es noch ein Buch von Norman Clothier, der analysierte, wie die Zeitungen damals über den Untergang der SS Mendi schrieben. Ihm gelang es aber auch, Briefe einiger der weißen Offiziere ausfindig zu machen, die auf der SS Mendi waren, insbesondere Captain Louis Hertslet. Er schrieb Briefe an seine Frau, an seine Familie, bevor das Schiff sank.
Keine einfache Lektüre . . .
Khumalo: Um die Atmosphäre des Ortes einzufangen, ging ich für drei Monate nach Frankreich, nach Dieppe, um die Landschaft zu verstehen, die Winde, Berge oder Hügel – und wegen der Lager, in denen die Männer untergebracht waren. Glücklicherweise bewahrte die Bibliothek in Dieppe die Berichte dieser Männer auf, die während der Zeit des Krieges dort stationiert waren. Auch das ergänzte die Recherchen.
Und warum haben Sie dann kein Sachbuch geschrieben?
Khumalo: Zunächst wollte ich in der Tat ein Sachbuch schreiben, gestützt auf das Archivmaterial und die Zeitungsberichte. Aber als ich das Material sichtete, war mir klar, dass das für ein Sachbuch nicht reichen würde. Zudem gab es so viele Schauplätze, und diejenigen, die aus dem Krieg zurückgekehrt waren, waren schon lange tot. Selbst wenn ich noch Überlebende gefunden hätte, wären sie in einem Alter gewesen, in dem sie sich nicht mehr umfassend hätten erinnern können. Es wäre also sehr schwierig geworden, das als Sachbuch zu erzählen. Daher entschied ich mich für ein fiktionales Buch, nahm die Historie als Gerippe und fügte Fleisch und Blut hinzu – und daraus erwuchs der Roman.
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