Heidelberg. Als der 39-jährige Dorian K. (er möchte seinen richtigen Namen nicht öffentlich nennen) im Jahr 2019 das erste Mal mit seinem elektrischen Rollstuhl in ein Heidelberger Freudenhaus rollt, wagt er anfangs nur einen verschämten Blick auf die freizügig gekleideten Damen, die ihm dort vor der geöffneten Zimmertür sitzend ihre Dienste anbieten. Ohne seine ursprünglich vorhandene Lust befriedigt zu haben, verlässt er die in tiefes Rot getauchten Gänge an diesem Tag aber einigermaßen eilig wieder. Ihm sei ordentlich die Pumpe gegangen, und er habe Fluchtgedanken gehabt, erinnert er sich heute an die Situation. Wenige Wochen später kehrt er aber in den „Bienenstock“, wie das Bordell in der Heidelberger Bahnstadt bei seiner Eröffnung im Jahr 2015 getauft wurde, zurück. Und dieses Mal kommt er auf seine Kosten.
24 Stunden am Tag hat er inzwischen Helfer an seiner Seite, die viele seiner Wünsche erahnen. Aber bei der intimsten Angelegenheit, die die Welt kennt: Will man da nicht ganz für sich sein?
„Ja, behinderte Menschen haben Sex“. Dorian K. erzählt seine Geschichte so selbstverständlich wie die seit einem Sturz im Jahr 2018 querschnittsgelähmte zweifache Bahnrad-Olympiasiegerin Kristina Vogel. Sie brach im vergangenen Jahr öffentlich ein Tabu, als sie über ihr Intimleben nach ihrem Schicksalsschlag sprach. Auch der in Mannheim lebende Dorian K. kann heute sehr offen über seine Bedürfnisse sprechen. Er erinnert sich beispielsweise, wie er sich das erste Mal selbst befriedigte und seine Mutter anschließend verständnisvoll und ohne weiter peinlich nachzufragen die Bettwäsche gewaschen habe.
Drei Treppenstufen zum Höhepunkt
Er erwähnt seine heutige Partnerin, die eine „Fußgängerin“ ist, wie nicht behinderte Menschen aus der Perspektive von Rollstuhlfahrern genannt werden. Mit ihr erlebe er liebevollen und zärtlichen Sex. Und er lässt nicht aus, wie schwer und frustrierend es zu akzeptieren war, wenn vor der Haustüre des Mädchens, das er abends kennengelernt hatte, dann plötzlich drei unüberwindbare Treppenstufen den Höhepunkt des Abends verhinderten. Etwas verlegen hätten sich dann die Wege getrennt. Dorian K. sitzt schon viele Jahre in dem 150 Kilogramm schweren Stuhl, der ihm von einer schweren vererbbaren Muskelkrankheit aufgezwungen wird. Und war es bis vor einigen Jahren für ihn noch möglich, sich wenigstens die Zähne selbst zu putzen, so ist daran nicht mehr zu denken. „Vor 20 Jahren konnte ich mir noch in den Schritt greifen und mich selbst befriedigen. Das ist unvorstellbar heute“, sagt er.
24 Stunden am Tag hat er inzwischen Helfer an seiner Seite, die viele seiner Wünsche erahnen. Aber bei der intimsten Angelegenheit, die die Welt kennt: Will man da nicht ganz für sich sein?
Vor dem Porno-Hochregal in der Videothek
Der 39-Jährige hat in den vielen Jahren, die ihn seine Behinderung begleitet, gelernt, seine Bedürfnisse zu formulieren. Er beschreibt aber auch, wie frustrierend es früher für Menschen mit Behinderung etwa vor dem Porno-Hochregal in der Videothek sein konnte. Beispiel gefällig? „Einmal den Film da oben in der dritten Reihe, wo die Frau mit den dicken Brüsten drauf ist“.
Dass der Weg in ein Bordell für Dorian K. nicht der einfachste ist, bevor er seine heutige Beziehung einging, kann jeder einigermaßen mitfühlende Mensch nachvollziehen. Eben weil es Behinderten nicht so leicht fällt, Sexualpartner auf dem „normalen“ Weg zu finden. Wer als Rollstuhlfahrer nicht kommunikativ und mutig ist, der wird nur schwer zum Ziel kommen. Da bedarf es zunächst der Nachfrage bei der Geschäftsführung des Bordells, ob es hier überhaupt eine Dienstleistung für behinderte Menschen gibt.
Insgesamt sieht die Lage in Deutschland so aus, dass es keine staatlich anerkannte Ausbildung zur Sexualbegleiterin oder zum Sexualbegleiter gibt. Stattdessen bieten Vereine oder private Bildungsinstitute Workshops mit Zertifikat an. Aber wer zahlt eigentlich in einem solchen Fall? Dass Krankenkassen für eine sexuelle Erfahrung ihrer Versicherten bezahlen, stellt - anders als etwa in der Schweiz - immer noch eine Ausnahme dar. Zwischen 100 und 200 Euro kostet eine Sexualbegleitung nach unseren Recherchen. „Reden, uns umarmen, kuscheln. Zusammen nackt sein, uns berühren und spüren. Den weiblichen Körper betrachten und erkunden“, wirbt eine Sexassistentin im Netz.
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Im Heidelberger Bordell Bienenstock, wo man der Republik ja schon im Jahr 2015 voraus war, als man den ersten „Passivhaus-Puff“ in Deutschland einweihte, gibt es keine offizielle Sexualbegleitung. Dafür gibt es beispielsweise Jenny, die als Prostituierte schon länger im Geschäft ist. Auf die Frage, wie sie mit den Wünschen körperlich behinderter Kunden umgeht, antwortet sie, dass sie da keine Unterschiede mache. „Oft wollen behinderte Menschen nur Körperwärme oder eine Massage“, berichtet sie. Gar nicht mal unbedingt konventionellen Sex also. Man brauche mehr Feingefühl. Für sie persönlich sei das kein Problem, denn sie sei mit einem Onkel aufgewachsen, der zeitlebens im Rollstuhl gesessen habe. Konkret laufe Sex mit Behinderten so ab, dass sie sich entweder zu einem Kunden auf den Rollstuhl setze oder die Begleiter ihn auf das Bett legten, wo sie den Mann dann ausziehe und nach seinen Wünschen bediene.
"Da gehen ja auch andere hin"
Etwas über zehn Mal - so oft war Dorian K. früher ungefähr im Bienenstock bei unterschiedlichen Frauen, nachdem er sich erstmals getraut hatte. „Ich muss nicht darauf stolz sein, ins Bordell gegangen zu sein, aber andere gehen da auch hin und sind deshalb keine schlechten Menschen“, findet er.
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