Berlin. Die Konjunkturprognosen sind ernüchternd, die Wirtschaftsweisen erwarten für dieses Jahr nur noch 0,2 Prozent Wachstum. Müssen die Menschen in Deutschland jetzt mehr arbeiten? Monika Schnitzer, Vorsitzende des Sachverständigenrats, beschreibt einen Weg aus der Krise - und attackiert Finanzminister Christian Lindner (FDP).
Frau Schnitzer, nur zwei Länder in Europa - Estland und Finnland - haben schlechtere wirtschaftliche Aussichten als Deutschland. Wie kann das sein?
Monika Schnitzer: Die schwache Konjunktur hat immer noch damit zu tun, dass Deutschland als Industrieland mit vielen energieintensiven Unternehmen von der Energiekrise besonders hart getroffen wurde. Als Exportnation haben wir besonders unter der schwachen weltwirtschaftlichen Entwicklung gelitten, und wir machen die Erfahrung, dass China in unseren Exportmärkten zu einer großen Konkurrenz geworden ist. Deswegen zieht die Auftragslage nicht so an, wie wir das in anderen Aufschwungphasen erlebt haben.
Schlägt das auf den Arbeitsmarkt durch?
Schnitzer: Wir erwarten in diesem Jahr eine Arbeitslosenquote von 5,8 Prozent, 2023 sind es 5,7 Prozent gewesen. Auch wenn es vereinzelt zu Jobverlusten kommt: Was wir auf dem Arbeitsmarkt sehen, ist immer noch sehr moderat.
Ist es sinnvoll, im großen Stil die Staatsausgaben zu kürzen, wenn die Konjunktur lahmt - wie Finanzminister Lindner das plant?
Schnitzer: Ein staatliches Konjunkturprogramm halte ich nicht für geboten. Aber ich kann nur davor warnen, Staatsausgaben zurückzudrängen, wo sie dringend notwendig wären: Infrastruktur, Ausbau der Energienetze, Digitalisierung, Verteidigung. In dieser Lage einen so rigiden Sparkurs zu fahren, wie Finanzminister Lindner das tut, ist keine gute Idee.
Wünschen Sie sich zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes eine Lockerung der Schuldenbremse?
Schnitzer: Der Sachverständigenrat hat erst kürzlich vorgerechnet, dass die Schuldenbremse in ihrer aktuellen Ausgestaltung restriktiver ist als nötig. Man könnte also guten Gewissens das Grundgesetz ändern und den Spielraum etwas erhöhen, ohne unsere Kreditwürdigkeit zu gefährden. Wir brauchen aber einen Mechanismus, der sicherstellt, dass man die Spielräume wirklich für Zukunftsinvestitionen nutzt - und nicht etwa dafür, um beispielsweise notwendige Rentenreformen zu unterlassen. Die Frage, wie man das bewerkstelligen kann, beschäftigt uns im Rat schon seit Längerem.
Müssen die Menschen mehr und länger arbeiten, damit Deutschland aus der Krise findet?
Schnitzer: Wir sollten auf jeden Fall die Lebensarbeitszeit weiter anheben.
Kommt die Rente mit 70?
Schnitzer: Der Sachverständigenrat Wirtschaft hat sich dafür ausgesprochen, das Renteneintrittsalter an die steigende Lebenserwartung zu koppeln. Für jedes Jahr, das man länger lebt, sollte man acht Monate mehr arbeiten und vier Monate mehr Rente beziehen. Wenn wir das mal durchrechnen, würde man nach heutigem Stand alle zehn Jahre ein halbes Jahr länger arbeiten. Bei der Rente mit 70 wären wir dann erst im Jahr 2091.
Sie haben vorgeschlagen, die Rentenhöhe an der Inflation zu orientieren statt wie bisher an den Löhnen. Kritiker fürchten, das läuft auf eine Rentenkürzung hinaus.
Schnitzer: Das ist falsch. Wenn wir den Rentenanstieg an die Inflation koppeln, würde die Rente nur nicht mehr so stark steigen. Aber keinem, der jetzt Rente bezieht, wird dadurch etwas genommen. Wir erhalten ja die Kaufkraft der Rente. Das machen im Übrigen die meisten Länder in Europa so. Die ausgezahlte Rentensumme, die jeder erhält, steigt schon alleine dadurch, dass wir länger leben. Die Rente wie bisher an der Lohnentwicklung zu orientieren, ist deshalb nicht länger finanzierbar.
Können wir uns die Rente mit 63 noch leisten?
Schnitzer: Die aktuelle Rente mit 63 ist nicht zielgenau. Studien zeigen: Diejenigen, die Gebrauch von der abschlagsfreien Rente nach 45 Versicherungsjahren machen, haben durchschnittlich verdient und sind überdurchschnittlich gesund. Es geht gerade nicht um den viel zitierten Dachdecker. Diejenigen, die man erreichen will, erreicht man nicht.
Wollen Sie die Rente mit 63 in Zukunft nur noch Kranken ermöglichen?
Schnitzer: Menschen mit gesundheitlichen Problemen haben ohnehin schon die Möglichkeit, in die Erwerbsminderungsrente zu gehen. Für die müssen wir das nicht diskutieren. Sinnvoll wäre, die Rente mit 63 auf Geringverdiener auszurichten. Das sind typischerweise Menschen, die in körperlich anstrengenden Jobs sind und oft keine so hohe Lebenserwartung haben. Das wäre eine einfache, plausible Variante.
Und die Wochenarbeitszeit? Michael Kretschmer, Ministerpräsident von Sachsen und Stellvertreter von Friedrich Merz in der CDU, fordert die 40-Stunden-Woche für alle.
Schnitzer: Aus Sicht der Wirtschaft wäre es prima, wenn die Menschen 40 Stunden arbeiten - so wie früher. Wenn man, wie häufig von den Unternehmen gefordert, die Marktkräfte walten lässt, wird man aber schnell feststellen, dass sich die Marktmacht der Beschäftigten vergrößert hat. Junge Menschen können es sich aussuchen, für wen sie arbeiten. Wer gute Mitarbeiter gewinnen will, muss attraktive Konditionen bieten.
Ein Plädoyer für die Vier-Tage-Woche?
Schnitzer: Eine Wochenarbeitszeit von 32 Stunden macht einen Job attraktiver, gar keine Frage. Ob das dann mit vollem Lohnausgleich erfolgt, ist Verhandlungssache. Eine wichtige Frage dabei wird sein, ob die Produktivität gesteigert werden kann, beispielsweise durch mehr Digitalisierung und Automatisierung, so dass die implizite Lohnsteigerung finanzierbar ist.
Welche Folgen für den Standort hätte ein Erfolg der AfD bei der Europawahl und den Landtagswahlen im Osten?
Schnitzer: Jeder Erfolg der AfD verringert die Attraktivität des Standorts Deutschland für Investoren. Unternehmen wissen, dass es schwieriger wird, Arbeitskräfte aus dem Ausland zu finden, wenn diese sich bei uns nicht willkommen und sicher fühlen. Dann gehen Investoren dieses Risiko gar nicht erst ein.
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