Frau Tashiro, erinnern Sie sich noch an das Verfahren vor zehn Jahren gegen Ulrich Engler?
Annerose Tashiro: Natürlich, Ulrich Engler war einer der – in diesem Fall muss man sagen leider – schillerndsten Anlagebetrüger, die es in den vergangenen Jahrzehnten in Europa und den USA gegeben hat. Ich habe damals als Vertreterin des US-Insolvenzverwalters vor dem Mannheimer Landgericht ausgesagt. Das war ein spektakulärer Prozess, den ich nie vergessen werde.
Was war denn das Besondere an dem Prozess?
Tashiro: Engler ist ein deutscher Staatsangehöriger, er hatte aber in Florida ein gewaltiges Schneeballsystem mit fingierten US-Aktiengeschäften betrieben. Er versprach rund 3000 Anlegern Renditen von mehr als 50 Prozent pro Jahr und schwatzte ihnen etwa 170 Millionen Euro in wenigen Jahren ab.
Wie konnte er denn die vielen Anleger hinters Licht führen?
Tashiro: Engler hatte sich eine besondere Geschichte ausgedacht. Engler behauptete, er hätte früher bei der J.P. Morgan Bank gearbeitet, was allerdings komplett erfunden war. Bei J.P. Morgan habe er die Welt der Aktien komplett verstanden. Mit einer einzigartigen Software sei er in der Lage, 35 000 Aktien-Transaktionen vorbörslich evaluieren zu können . . .
… das klingt ziemlich gaga …
Tashiro: … natürlich ist es das. Die Leute haben ihm diese Story aber abgekauft. Angefangen hat Engler, der während der ganzen Zeit des Betrugs in den USA gelebt hat, ganz klein mit einigen Vermittlern vor allem in Baden-Württemberg. Das lief dann wie ein typisches Schneeballsystem ab. In der Regel werden zuerst Verwandte und Freunde reingelegt, dann wird die Sache immer größer, und die Vermittler kassieren fette Provisionen.
Der Fisch stinkt immer vom Kopf, aber beim Schneeballsystem sind die Vermittler auch Betrüger.
Tashiro: Ja, es gab zwar einen engen Zirkel aus den vier Top-Vermittlern, man hat immer von den „Fantastic Four“ gesprochen, aber insgesamt hat das LKA Baden-Württemberg 2007 bei rund 25 Vermittlern Hausdurchsuchungen durchgeführt. Einige wurden angeklagt wegen Betrugs oder Beihilfe zum Betrug von Engler. Die wussten sehr gut, dass die Anleger ihr Geld nie zurückbekommen würden.
Annerose Tashiro
- Annerose Tashiro wurde am 10. November 1974 in Leipzig geboren.
- Seit 2004 ist Tashiro bei der Kanzlei Schultze & Braun.
- in Achern und leitet dort die internationale Abteilung.
Die kriminelle Energie der Betrüger kann nur Früchte tragen, wenn die Anleger mitmachen. Was ist denn da ausschlaggebend?
Tashiro: Das ist eine Mischung aus Leichtgläubigkeit, Dummheit oder Gier. Manche haben bei Engler nur ein paar Tausend, andere mehrere Hunderttausend Euro angelegt. Es machten Zocker mit, die etwas Spielgeld übrig hatten, aber auch welche, bei denen das Geld aus dubiosen Quellen stammte. Und halt auch normale Leute, wie ein schon über 80-Jähriger, der eine Hypothek auf seine Eigentumswohnung aufnahm, um bei Engler zu investieren. Dabei war die Wohnung eigentlich für die Enkel vorgesehen. Da habe ich mich schon gefragt, warum die Familien das nicht mitbekommen haben. Manche schlugen wiederum Warnungen in den Wind, wie zum Beispiel ein Kunde, dem die Bank klarmachte, dass die Sache faul war. Er hat dann das Geld aber trotzdem überwiesen, das dann weg war.
Welche Rendite hat Engler den Leuten versprochen?
Tashiro: Vier bis sechs Prozent Rendite pro Monat. Außerdem hat er ja auch noch behauptet, er würde ganz konservativ nur 25 Prozent des Kapitals anlegen. Im Umkehrschluss hätte er dann aber eine Gesamtrendite von 275 Prozent erwirtschaften müssen, um die Anleger auszuzahlen.
Engler bekam nur achteinhalb Jahre – mit Aussicht auf Freilassung nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe.
Tashiro: Der Insolvenzverwalter und die Kollegen in den USA, mit denen ich zusammengearbeitet habe, waren damals über das niedrige Strafmaß schon ziemlich irritiert, zumal bei guter Führung ja immer eine vorzeitige Freilassung möglich ist. Nur zum Vergleich: Der US-Anlagebetrüger Bernie Madoff wurde zu 150 Jahren verurteilt – und ist letztlich in einem Gefängniskrankenhaus gestorben.
In den USA ist das Strafmaß aber im Vergleich zu Deutschland immer wahnsinnig hoch, und das „Monster der Wall Street“ hat ja auch 65 Milliarden Dollar ergaunert. Und über Engler gibt es auch keine Netflix-Dokumentation.
Tashiro: Das stimmt. Wenn ein Angeklagter ein umfassendes Geständnis ablegt und sich reuig zeigt, kann er hierzulande mit einem niedrigeren Strafmaß rechnen.
Wie viel von dem Geld haben die Gläubiger von Engler zurückbekommen?
Tashiro: Rund acht Prozent.
Das ist nicht gerade viel.
Tashiro: Ja, das bewegt sich aber im Rahmen von normalen Insolvenzverfahren, obwohl die mit Betrugsfällen nur bedingt vergleichbar sind. Man muss aber auch wissen, dass das lange gedauert hat, bis die Aufsichtsbehörden und die Polizei auf Engler und seine Machenschaften aufmerksam wurden und die Anleger gewarnt haben. Ich habe damals den Geschädigten geraten: Schreibt das Geld am besten gedanklich ab und freut euch, wenn es am Ende etwas gibt. Dabei ist der Fall Engler bis heute ein Paradebeispiel dafür, wie so ein Schneeballsystem funktioniert.
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Gibt es aktuell auch vergleichbare Fälle, in denen private Anleger so übers Ohr gehauen werden?
Tashiro: Ich habe schon vor dem zehnten Jahrestag wieder an den Fall Engler denken müssen, als Kryptobörsen wie FTX oder Celsius in die Insolvenz gegangen sind und viele private Anleger ihr Geld beziehungsweise ihre Kryptowährungen verloren haben. Die sind da recht blauäugig reingegangen und haben nicht einmal die aus deutscher Verbraucherschutzsicht wohl sittenwidrigen Verträge gelesen. Die Anleger haben nämlich unterschrieben, dass im Fall der Insolvenz die Kryptowährungen dem Unternehmen gehören würden. Da lautete das Motto offensichtlich: Häkchen dran und „weiter“ klicken. Angesichts der großen Textmengen der Online-AGBs durchaus verständlich, finanziell gesehen jedoch brandgefährlich.
Mag sein, dass die Anleger nicht verstanden haben, was sie da unterschreiben, ich frage mich aber schon, warum dann nicht wenigstens die Aufsichtsbehörden diese Verträge gelesen haben?
Tashiro: Diese Frage habe ich mir auch schon gestellt. Im Fall Celsius hieß es in den USA bei dem Insolvenzgericht: Es herrscht das Prinzip der Vertragsfreiheit. Die Leute haben angeklickt, dass sie den Vertrag gelesen haben. Dann ist also alles ok. Der Verbraucherschutz ist da also auf der Strecke geblieben. Wir erleben es leider häufig – und nicht nur in den USA –, dass es immer erst zu solchen Katastrophen kommen muss, bis die Aufsichtsbehörden reagieren. Bei diesen Krypto-Börsen ist das wohl leider noch nicht der Fall. Und vergessen Sie nicht, da geht es immerhin um Milliardenbeträge. Aber die Staatsanwältin hat wiederum Zivilklage auf Schadensersatz wegen Anlagebetrugs erhoben. Mal sehen. Noch ist es nicht klar.
Hat sich denn das Volumen beim Anlagebetrug seit Englers Verurteilung erhöht?
Tashiro: Ja, das hat auch mit der Globalisierung auf der Ebene der privaten Anleger zu tun. Es ist einfach unheimlich viel Geld im Umlauf. Und durch das Internet und die sozialen Medien können Betrüger viel leichter toll klingende Angebote verbreiten und den Anlegern etwas vorgaukeln. Weil das Kapital in einem Bruchteil von Sekunden um den Globus geschickt werden kann, ist die Arbeit der nationalen Aufsichtsbehörden natürlich viel schwieriger geworden. Nationale Aufsichtsbehörden wie die Bafin kommen da allein auch nicht weiter. Da müssten sich die Finanzminister auf G7- und G20-Ebene etwas einfallen lassen. Klar ist jedenfalls, die Staatsanwaltschaften, Landeskriminalämter und Insolvenzverwalter müssen sich in diesem ungleichen Kampf schon gewaltig strecken.
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