Energiekrise

Regionale Unternehmen bereiten sich auf Gas-Rationierung vor

Sollte nach Abschluss der Wartungsarbeiten an der Pipeline Nord Stream 1 kein russisches Gas mehr fließen, stellt sich die Industrie darauf ein, die Produktion kontrolliert herunterzufahren.

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Sabine Rößing
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Der Elektromotoren- und Ventilatorenhersteller ebm-papst aus Mulfingen (Hohenlohekreis) erwartet drastisch höhere Gaspreise. © Christoph Schmidt/dpa

Rhein-Neckar. Zum planmäßigen Ende der Wartungsarbeiten der Gaspipeline Nord Stream 1 steigt die Nervosität bei Gasversorgern und Industrie. „Eine Verschlechterung der Situation kann nicht ausgeschlossen werden“, analysiert die Bundesnetzagentur lakonisch. Derzeit werde aus den Gasspeichern teilweise marktbedingt „ausgespeichert“, es geht also mehr Gas raus als rein. „Alle Beteiligten müssen alarmiert sein über die Situation“, betont Thilo Brodtmann, Hauptgeschäftsführer des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA). „Die Gefahr ist real, dass wir in eine Unterversorgung und damit in ein Rationierungsregime hineinlaufen“. Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) warnt: Sollte Nord Stream 1 dauerhaft nicht mehr in Betrieb genommen werden, müsse mit Engpässen im Herbst oder Winter gerechnet werden.

In den Kommunen wächst derweil die Sorge um die Stadtwerke: Der Druck nehme jeden Tag zu, sagte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags, Helmut Dedy, und fordert einen Schutzschirm für die kommunalen Energieversorger.

Alternativen wie Öl und Biomasse

Die Industrie bereitet sich darauf vor, die Produktion zur Not und wo immer möglich herunterzufahren. Krisenszenarien werden durchgespielt. „Der Einsatz von alternativen Energieträgern ist an verschiedenen Standorten möglich“, erklärt der Mannheimer Südzucker-Konzern auf Anfrage: Zu den möglichen Alternativen gehöre auch die Umleitung der Rübenströme zur Verarbeitung an andere Standorte. Neben Öl seien mancherorts auch Biomassekessel vorhanden. Der Aufbau der notwendigen Infrastruktur sei allerdings langwierig und nicht überall möglich. Neben logistischen Problemen beklagen Unternehmen darüber hinaus langwierige Genehmigungsverfahren für die Inbetriebnahme.

„Wir haben wir uns darauf vorbereitet, die Produktion an unseren europäischen Standorten auch mit einer reduzierten Gasmenge weiter zu steuern“, erklärt ein Sprecher des Darmstädter Pharma-Konzerns Merck. Der Konzern werde die Produktionsprozesse unter anderem auf Erdöl verlagern, hatte die Merck-Vorstandschefin Belén Garijo der „FAZ“ gesagt. Eine Umstellung auf flüssige Brennstoffe führe jedoch zu deutlich höheren Kosten, betont Merck. Sollte tatsächlich die dritte Stufe des Notfallplans Gas ausgerufen und sollten Industriekunden von der Versorgung abgeschnitten werden, gerate auch die Lieferung von Vorprodukten in Gefahr.

Auch Heidelberger Druckmaschinen bringt Notfallpläne auf den neuesten Stand: „Wir möchten und können den Gasverbrauch reduzieren und prüfen Alternativen.“ Beim Chemiekonzern BASF greife ein sogenannter Sonderalarmplan. Mit ihm könne der Konzern auf Druckschwankungen reagieren, erklärt der Branchenführer. Der VCI geht davon aus, dass die Branche mit dem Einsatz anderer Brennstoffe kurzfristig nur zwei bis drei Terawattstunden Gas sparen kann. Insgesamt benötigt die Chemie- und Pharmabranche rund 135 Terawattstunden Gas im Jahr - davon 100 als Energieträger und 35 als Rohstoff für die Produktion.

„Wir werden einen Gasmangel nicht gleichzeitig in Deutschland sehen und auch nicht flächendeckend“, prognostizierte allerdings VCI-Energieexperte Jörg Rothermel. Der Osten und Süden würden im Ernstfall wahrscheinlich zuerst betroffen sein. „Im Süden haben wir nur zwei Speicher. Außerdem ist das Netz nicht für stärkere Gasflüsse aus dem Norden und Westen ausgelegt.“

Drastisch höhere Preise befürchtet

Sorge bereitet vielen Unternehmen die Möglichkeit, dass es ihrem Gasversorger bei verschärfter Gaslage laut Paragraf 24 des kürzlich novellierten Energiesicherungsgesetzes erlaubt werden könnte, bestehende Lieferverträge zu kündigen, um die Preise anzupassen. So können Gasimporteure die höheren Beschaffungskosten an ihre Abnehmer weiterreichen. Vorgesehen ist diese Maßnahme in der zweiten Stufe des Notfallplans Gas. Noch wird diese Option allerdings nicht angewendet: „Es ist gut, dass die Bundesregierung die Weitergabe der höheren Gaspreise an die Kunden gegen bestehende Verträge aktuell nicht ermöglicht“, betont der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Peter Adrian. Immer mehr Verträge mit noch niedrigen Gaspreisen laufen allerdings aus.

„Wir befürchten drastisch höhere Gaspreise“, sagt ein Sprecher des Mulfinger Herstellers von Lüftungs- und Antriebstechnik, ebm-papst. Das Verständnis für Preissteigerungen in Folge enorm gestiegener Kosten sei aber bei den Kunden angekommen. „Da wir auch am Spotmarkt kaufen, merken wir die Preissteigerungen für Gas schon seit Beginn des vergangenen Jahres“, erklärt Südzucker.

Ähnlich ergeht es Merck: „An unseren Produktionsstandorten sichern wir einen gewissen Teil unseres Strom- und Gasbedarfs länderspezifisch durch Preisvereinbarungen und anteilige Absicherungen. Deswegen treffen uns die Spotmarktpreise nicht direkt mit voller Wucht. Mit den steigenden Preisen auf dem Spotmarkt steigt jedoch auch der nicht abgesicherte Anteil unserer Energiekosten“. Alternativ zu den Preisanpassungsrechten des Paragrafen 24 erhält die Bundesregierung mit den neuen Paragrafen 26 EnSiG außerdem die Möglichkeit, ein Umlageverfahren zu schaffen, um die Belastungen aus drastischen Energiepreissteigerungen breit zu verteilen. So sollen Branchen- Unwuchten vermieden werden. „Wir sehen wir ein solches Umlageverfahren als gerechteres Verfahren an. Schmerzhaft wird es trotzdem werden“, prognostiziert Südzucker- Sprecher Dominik Risser. „In der Rangfolge der Maßnahmen ist vorgesehen, dass die direkten finanziellen Stabilisierungsmaßnahmen bei den Gasversorgern Priorität haben“, erklärt der Hamburger Rechtsanwalt Christian Hampel von BDO Legal. „Erst wenn diese nicht ausreichen, soll eine Preisanpassung gegenüber den Kunden zugelassen werden“.

Umlagesystem nur Ultima Ratio

„Der mittelständische Maschinen- und Anlagenbau unterstützt eine faire Lastenverteilung, die einzelne Gasverbrauchergruppen nicht überfordert“, sagt VDMA-Hauptgeschäftsführer Brodtmann. Sonst bestünde die Gefahr, dass insbesondere Unternehmen in der energieintensiven Industrie ihre Produktion einstellen und in der Folge Insolvenzen drohen. Ähnlich sieht man es bei Heidelberger Druck: „Der Beschluss ist gut und richtig, für den Ernstfall ein Umlagemodell zur Absicherung der Versorger zu entwickeln, statt einer unkalkulierbaren, unmittelbaren Weitergabe von Mehrkosten“. Das Umlagesystem dürfe allerdings nur Ultima Ratio sein.

Die Bundesnetzagentur habe bei allen Unternehmen mit großem Gasverbrauch Daten abgefragt, die für eine Festlegung der Abschaltreihenfolge dienen sollen, sagt Hampel. Allerdings habe die Behörde auch bekannt gegeben, dass es bei kurzfristigen Abschaltungsanordnungen noch nicht möglich sein wird, diese Daten zu berücksichtigen. Das soll erst ab Freischaltung der geplanten Gassicherheitsplattform im Herbst möglich sein. Bis dahin will die Bundesnetzagentur bei Abschaltverfügungen den Gasbezug prozentual oder für bestimmte Branchen einschränken. „Ob damit die rechtlichen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit erfüllt werden, erscheint fraglich,“ sagt der Jurist.

In der Debatte um die Verteilung geringerer Energieressourcen setzten einige Branchen inzwischen offen auf ihren Status als kritische Infrastruktur. Vor allem Ernährungsindustrie und Einzelhandel gehen dabei sogar öffentlich auf Konfrontation mit der Bundesnetzagentur. Deren Präsident Klaus Müller hatte in Interviews öffentlich Tendenzen dafür erkennen lassen, welche Branchen und Produkte er für systemrelevant hält: „In einer Gasmangellage wären Produkte und Angebote, die in den Freizeit- und Wohlfühlbereich fallen, eher nachrangig“, sagte Müller in Interviews. „Schwimmbäder gehören wohl nicht zum kritischen Bereich, genauso wie die Produktion von Schokoladenkeksen.“

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