Interview zum Cum-Ex-Skandal

„Politisch sind die Reaktionen nach wie vor fast bei Null“

Von 
Dirk Lübke
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Christoph Spengel wirft der Finanzbranche vor, beim Cum-Ex-Betrug „gemeinsame Sache“ gemacht zu haben. © dpa

Mannheim. Christoph Spengel lehrt in Mannheim, lebt in Heidelberg - und ist einer der renommiertesten Experten im Steuerrecht und in Betriebswirtschaft. Der 56-Jährige sprach mit dieser Redaktion über Steuern, Betrug, Cum-Ex, Digitalisierung, Föderalismus, Zentralismus.

Herr Spengel, Aktionäre haben sich mit Hilfe von Banken jahrelang Kapitalertragsteuer erstatten lassen, die nie bezahlt wurde. Diese Steuer wird in Höhe von 25 Prozent auf Dividenden fällig, also auf den ausgeschütteten Gewinn-Anteil eines Aktionärs. Bei den komplizierten Aktiengeschäften, auch Cum-Ex genannt, entstand dem Staat ein Schaden von mehreren Milliarden Euro. Inzwischen gab es erste Verurteilungen am Landgericht Bonn. Wird jetzt alles gut?

Christoph Spengel: Die Strafgerichte arbeiten sehr gut, ermitteln tiefe Details und bauen die komplizierten Wege zusammen wie einen Schaltplan. Das gibt Hoffnung, auch wenn wir erst am Anfang stehen. Politisch sind die Reaktionen nach wie vor fast bei Null; dabei bräuchte es nur ein paar Gesetzesänderungen und man müsste die Abrechnungssysteme gegen Betrug absichern. Der Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag zu Cum-Ex hat das bereits vor vier Jahren gefordert. Wenn ich als Staat wie hier um zweistellige Milliardenbeträge betrogen werde, muss ich das beseitigen. Aber die große Koalition macht nichts - wahrscheinlich auch, weil die Finanzminister der vergangenen 25 Jahre von einer Partei der großen Koalitionäre gestellt wurden.

Woran hakt es noch?

Spengel: Am Föderalismus. Die obersten Finanzbehörden der Bundesländer nehmen Steuern ein; dort kommt also auch die Kapitalertragsteuer an. Das Bundeszentralamt für Steuern mit Hauptsitz in Bonn wiederum erstattet Kapitalertragsteuer. Diese Bundesbehörde und die Landesbehörden arbeiten noch analog miteinander. Sie müssten aber unbedingt miteinander verknüpft sein, synchronisiert arbeiten. Wenn nicht zentral bekannt ist, was auf verschiedenen Ebenen eingenommen und erstattet wird, lassen sich die Betrügereien überhaupt nicht erkennen. Im Deutschen Bundestag führte ich dazu aus, dass ich so nicht einmal meinen Dreipersonenhaushalt führen könnte.

Was macht Ermittlungen wie bei den Cum-Ex-Geschäften so schwer?

Spengel: Banken, Fonds und Börsenhändler machen gemeinsame Sache. Banken können diese Geschäfte aufgesetzt, durchgeführt oder finanziert haben. Das globale Bankensystem ist beteiligt - ob die australische Investmentbank Macquarie, Deutsche Bank, Commerzbank, Santander, schwedische SEB, auch Landesbanken wie LBBW und die frühere West-LB, die nach neusten Meldungen mit über einer Milliarde Euro in Cum-Ex-Geschäfte verwickelt gewesen sein soll. Börsenhändler, Banken, Mitarbeiter, Berater - alle wussten und wissen, was sie tun. Aktuell sprechen wir von etwa 1000 Beschuldigten in 80 Fällen, die zu verhandeln sind. Wirecard ist nichts dagegen.

Am Ende muss doch wieder der Steuerzahler aufkommen?

Spengel: Die Cum-Ex-Geschäfte haben eine lange Entstehungsgeschichte. Die intensivste Phase des Betrugs auch mit großer Hilfe von deutschen Banken war von 2006 bis 2010. Gleichzeitig hat die Finanzkrise in 2008/2009 dazu geführt, dass der Bund mindestens 68 Milliarden Euro zur Sicherung eben dieser Banken eingebracht hat. Im gleichen Zeitraum erstattete der deutsche Fiskus wegen krimineller Cum-Ex-Geschäfte, an denen die Banken beteiligt waren, zu Unrecht weitere Milliarden an Steuerzahlergeld.

Sie sprachen von Föderalismus als Bremse. Wo finden Sie das noch hinderlich?

Spengel: Föderalismus hat auch gute Seiten. Aber bei der Digitalisierung und Ausstattung der öffentlichen Verwaltungen und der Schulen läuft es schlecht. Das muss zentral gemacht werden. Die Länder können das nicht, die Schulen auch nicht, weil sie keine IT-Experten haben. Wenn ich Kanzlerin Merkel wäre, dann hätte ich die Vorstandschefs Klein von SAP, Kaeser von Siemens und ein paar andere in diesen Zeiten zusammengeholt und hätte denen gesagt: Ich brauche eine Cloud für Deutschland und eine Zentralisierung der gesamten Technologie. Eine zentrale Technologie ist beispielsweise auch für Lehrplattformen und Videokonferenzen erforderlich, wo die Vielfalt kommunikationsbehindernd ist.

Die EU spricht seit Jahren von Steuerharmonisierung. Was sind die größten Aufgaben?

Spengel: In der EU wird massig Geld verloren. Es geht um Umsatzsteuerbetrug. Seit gut einem Jahrzehnt untersucht die EU-Kommission, wie hoch das Umsatzsteueraufkommen sein müsste und wie es ist. Die Differenz ist die Umsatzsteuerlücke. Das sind rund 140 Milliarden Euro pro Jahr, davon entfallen etwa 22 Milliarden auf Deutschland. Ursachen sind Schwarzarbeit aber auch Karussellgeschäfte und betrügerische Insolvenzen. Das Thema hört nicht auf. Die Umsatzsteuer ist noch betrugsanfälliger geworden durch die Digitalisierung, beispielsweise Sportwetten. Oder wenn ich bei Airbnb eine Unterkunft anbiete, sind Einkommensteuer und Umsatzsteuer zu entrichten. Die Kleinunternehmerregelung befreit jedoch von der Umsatzsteuer bei Einnahmen bis 22 000 Euro im Jahr. Hotels hingegen zahlen Umsatzsteuer ab dem ersten Euro Einnahme aus Übernachtungen. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Die Kleinunternehmerregelung, die nicht für Umsätze auf Plattformen gedacht war, muss sich Entwicklungen anpassen.

Welche Steuer erwarten Sie, die es noch gar nicht gibt?

Spengel: Die Paketsteuer auf den Onlinehandel.

Sachverständiger für den Bundestag

  • Christoph Spengel (56) lehrt seit 2006 an der Universität Mannheim betriebswirtschaftliche Steuerlehre. Er ist in Heidelberg geboren und machte dort am Helmholtz-Gymnasium 1983 Abitur.
  • Spengels Forschungsschwerpunkte sind (inter)nationale Unternehmensbesteuerung, Steuerplanung, EU-Steuerharmonisierung, steuerliche Innovationsförderung.
  • Der Professor arbeitete als Sachverständiger im Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags zur Aufklärung der Cum-Ex-Geschäfte mit. In dem Ausschuss war auch der Mannheimer Gerhard Schick als damaliger Bundestagsabgeordneter der Grünen tätig.
  • Bei Cum-Ex-Geschäften wird Kapitalertragssteuer denen erstattet, die nie welche bezahlt haben. Der Steuerschaden wird auf mindestens 40 Milliarden Euro beziffert.
  • Im März 2020 wurden am Landgericht Bonn erste Urteile – jeweils Bewährungsstrafen gegen zwei britische Börsenhändler – gesprochen. Die Privatbank M.M. Warburg wurde zu einer Strafzahlung von 176 Millionen Euro für ihre Beteiligung an Geschäften verurteilt

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