Herr Blersch, die Zeitarbeit hat in der Pandemie schwer gelitten, viele Menschen haben ihren Job verloren. Wie geht es der Branche inzwischen?
Peter Blersch: 2020 hatten wir in der Tat einen massiven Einbruch, 2021 gab es dann den großen Aufholeffekt. Auch im ersten Halbjahr 2022 war das Wachstum ordentlich: Die Lieferkettenengpässe waren nicht mehr so stark, und der Autosektor konnte wieder mehr produzieren. Im zweiten Halbjahr rechne ich mit ruhigeren Wachstumsraten im Markt.
Was bedeutet das konkret für den Arbeitsmarkt? Die Zeitarbeit gilt da ja als Frühindikator.
Blersch: Wir sehen, dass viele Firmen trotz Krise Personal einstellen und langfristig binden wollen. Entsprechend ist die Personalvermittlung ein extrem wachsender Markt. Auch die Zeitarbeit ist bisher stabil. Aber wir sind erst am Anfang des Prozesses. Es gibt auch bei Ihnen in der Region große Unternehmen, die sagen: Wir müssen etwas an der Personalstärke tun, um in Deutschland weiter produzieren zu können. Trotzdem erwarte ich keinen massiven Arbeitsplatzabbau. Wir haben mehr als eine Million offene Stellen – die Chancen für Bewerberinnen und Bewerber bleiben gut.
In welchen Branchen wird Zeitarbeit besonders stark nachgefragt?
Blersch: Die Nachfrage ist über viele Branchen hinweg sehr solide – ob in der IT, im kaufmännischen oder im technischen Bereich. Auch Automotive ist wieder zurückgekommen, wenn auch nicht mit den Höchstständen früherer Jahre. Zeitarbeit wird hier intensiv genutzt, gerade wenn die Produktion neuer Modelle anläuft. Insgesamt ist der beschränkende Faktor eher die Verfügbarkeit der Kandidatinnen und Kandidaten.
Personalexperte
Peter Blersch ist Geschäftsführer der Adecco Group in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Das Unternehmen ist nach eigenen Angaben der zweitgrößte Personaldienstleister in Deutschland. Bundesweit sind bei Adecco rund 35 000 Menschen angestellt, in der Region sind es etwa 1000.
Adecco ist nicht nur in der Zeitarbeit, sondern auch als Personalvermittler aktiv. Zu den fünf Qualifikationen, die rund um Mannheim am meisten gesucht werden, gehören laut Adecco SAP-Berater, Fachkräfte für Lagerlogistik, Softwareentwickler, Hilfskräfte und kaufmännische Angestellte. tat
Die Aussichten, direkt bei einer Firma angestellt zu werden, sind momentan ja auch sehr gut. Wer bewirbt sich da noch auf eine Zeitarbeitsstelle?
Blersch: Insgesamt bietet der Arbeitsmarkt im Moment sicher gute Chancen – aber im Einzelfall ist es manchmal doch nicht so einfach. Gerade Absolventen tun sich teilweise schwer mit dem Einstieg, weil viele Firmen lieber jemanden fest einstellen, der Berufserfahrung hat. Da kann Zeitarbeit ein Sprungbrett sein, um sich im Unternehmen zu bewähren. Im Moment gibt es außerdem viele Beschäftigte, die potenziell wechselbereit sind: Wer mit seinem aktuellen Job unzufrieden ist, nutzt die Zeitarbeit für den Wechsel in einen anderen Beruf.
Apropos Risiko: Die Gefahr, arbeitslos zu werden, ist für Zeitarbeiter deutlich größer als für andere Beschäftigte. Das hat die Pandemie wieder gezeigt. Schreckt das nicht viele ab?
Blersch: Das erlebe ich so nicht. Ein guter Teil der Menschen, die wir in der Zeitarbeit anstellen, kommt aus der Arbeitslosigkeit. Im Moment ist es außerdem so: Wenn Beschäftigte von uns in einem Betrieb nicht mehr gebraucht werden, ist es das kleinste Problem, einen anderen Einsatzort zu finden. Der Bedarf ist überall da, zumal, wenn die Mitarbeitenden eine gewisse Flexibilität mitbringen. Dass wir jemanden kündigen müssen, kommt selten vor – außer eben bei einer massiven Vollbremsung der Wirtschaft wie durch Covid.
Wie viele Beschäftigte haben Sie im Frühjahr 2020 entlassen?
Blersch: Ich kann Ihnen keine konkrete Zahl sagen. Bei den meisten Großkunden haben wir das Instrument Kurzarbeit genutzt. Unsere große Stärke ist, dass wir in so einer Situation disponieren können. Wir haben beispielsweise Menschen aus der geschlossenen Gastronomie in anderen Bereichen eingesetzt und 1600 Mitarbeitende in Impf- und Testzentren vermittelt.
Eigentlich müssen Zeitarbeiter nach neun Monaten in einem Betrieb genauso bezahlt werden wie die Stammbelegschaft. Trotzdem verdienen sie über alle Qualifikationsebenen hinweg weniger als andere Beschäftigte. Warum?
Blersch: Die Zeitarbeitsbranche hat einen eigenen Tarifvertrag – und der muss anwendbar sein, auch wenn ein Mensch heute bei einer Logistikfirma eingesetzt ist und morgen in einem Metallbetrieb. Alles andere wäre ein riesiger bürokratischer Aufwand. Für die Stammbelegschaft in den Betrieben gilt wiederum der jeweilige Branchentarifvertrag. Da gibt es teils deutliche Unterschiede: Lagermitarbeitende in der Pharmabranche werden zum Beispiel ganz anders bezahlt als Lagermitarbeitende in der Logistik. Um das auszugleichen, gibt es für Zeitarbeitende zwar Branchenzuschläge, aber im Einzelfall gibt es natürlich trotzdem manchmal einen Unterschied. Man muss aber auch sagen: In der Praxis zahlen wir oft über Tarif.
Weil Sie sonst keine Kandidaten mehr finden?
Blersch: Auch. Wobei: Mit Geld allein können Sie heute niemanden mehr halten, zumindest nicht langfristig. Wir haben gerade für eine Studie weltweit Beschäftigte befragt: Dabei kam heraus, dass Flexibilität für viele ganz oben steht. Das merkt man zum Beispiel in der Pflege. Da arbeiten viele Menschen, die wollen ihre Leistung bringen, können das durch ihre private Situation aber nur bedingt so machen, wie es der jetzige Arbeitgeber will. Diese Menschen wünschen sich eine Stelle, die zu ihren Bedürfnissen passt. In anderen Branchen ist die Möglichkeit zum Homeoffice wichtig. Die Menschen jetzt wieder ins Büro zurückzubeordern, ist sicher nicht das intelligenteste Instrument, um Talente in der Breite zu erreichen. Vor allem Firmen im ländlichen Raum, für die es oft schwer ist, Stellen zu besetzen, sollten das Potenzial von remote work nutzen.
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Manche Vorgesetzten haben vielleicht doch Sorge, dass im Homeoffice nicht genug gearbeitet wird.
Blersch: Ich kann da nur für mich selbst sprechen: Ich bin ein großer Fan der Vertrauenskultur. Ich unterstelle grundsätzlich, dass jeder seinen Job machen will, egal ob remote oder im Büro. Wichtiger als der Arbeitsort ist, dass man sich über die Ergebnisse unterhält, zum Beispiel im Mitarbeitendengespräch. Das Instrument sollte man nicht unterschätzen.
Warum?
Blersch: Laut unserer Studie verlässt ein Drittel der Beschäftigten ein Unternehmen, weil sie dort keine Perspektive sehen oder nicht mit ihnen gesprochen wurde. Das zeigt: Wenn wir jetzt nicht zuhören, was Arbeitnehmende wollen, haben wir ein Problem. Deshalb muss das Mitarbeitendengespräch ernst gemeint sein und sollte nicht nur einmal im Jahr stattfinden. Auch Weiterbildung ist wichtig: Mehr als 70 Prozent der Beschäftigten sehen bei sich selbst Qualifikationslücken. Da ist dann die Frage: Investiert mein Arbeitgeber in mich? Unterstützt er mich dabei, meine Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten? Für die Generation Z ist außerdem die Vier-Tage-Woche ein großes Thema.
Damit fremdeln aber viele Arbeitgeber. Ihnen wäre eine 42-Stunden-Woche lieber.
Blersch: Die 42-Stunden-Woche kann man sich natürlich wünschen – aber wenn ich mir die Bedürfnisse der Arbeitnehmenden anschaue, glaube ich nicht, dass das mehrheitsfähig ist. Gleiches gilt für einen späteren Renteneintritt. Schon jetzt gehen viele früher in Rente als mit 67.
Wie sieht die Lösung aus?
Blersch: Wir müssen das System flexibilisieren und mehr an die individuellen Lebenswege anpassen. Wir haben zum Beispiel bei einem großen Automotive-Unternehmen ein Programm, mit dem Ehemalige wieder aktiviert werden. Viele ältere Menschen haben Lust, noch etwas zu machen, aber das mit höchster Flexibilität. Andere hatten dafür einen harten körperlichen Job. Sie wollen mit 63 schon aufhören, haben dafür aber vorher richtig rangeklotzt. Außerdem müssen wir endlich Lösungen finden, wie wir mehr Fachkräfte aus dem Ausland bekommen. Immer wichtiger wird außerdem die Qualifizierung.
Inwiefern?
Blersch: In Zeiten des Personalmangels wird das perfect match seltener. Stattdessen geht es mehr darum, das Potenzial in den Menschen zu sehen und sich die Zeit zu nehmen, sie zu qualifizieren. Das muss nicht jedes Mal eine komplette Ausbildung sein. Wir machen bei Adecco sehr gute Erfahrungen mit Teilqualifizierungen. Meistens reichen schon ein paar Monate aus, und für die Beschäftigten ist damit oft der Sprung in eine höhere Gehaltsstufe möglich. In diesem Jahr werden wir allein im kaufmännischen und im industriellen Bereich rund 2000 Menschen weiterbilden. Und in Bayern haben wir gerade eine große Logistikakademie aufgebaut.
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