Interview

Mannheimer Ökonom zur Zinswende: Inflation bleibt vorerst hoch

Von 
Walter Serif
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Die Zentrale der Europäischen Zentralbank (EZB) im Frankfurter Osten. Die EZB will den Leitzins ab Juli in mehreren Schritten erhöhen. © dpa, Anna Logue

Mannheim. Der Mannheimer Ökonom Hans Peter Grüner dämpft die Hoffnungen, dass die Inflation nach dem Zinssignal der Europäischen Zentralbank schnell sinken wird. Er spricht über die Rolle der EZB und weitere Zinserhöhungen.

Herr Grüner, die Europäische Zentralbank hat am Donnerstag nach langem Zögern die Zinswende eingeleitet. Sind Sie damit zufrieden?

Hans Peter Grüner: Die Zinsbeschlüsse des EZB-Rats sind vertretbar. Das ändert aber nichts daran, dass die EZB spät reagiert hat und deshalb die Inflation zu lange hat laufen lassen. Sie bezieht sich dabei auf ihre eigenen Prognosen . . .

. . . die überholt sind . . .

Grüner: . . . die EZB hat aber jetzt wenigstens die ersten Zinsschritte angekündigt. Das hat die Aktienmärkte sichtlich überrascht, die Kurse sind ja nicht nur vor der Sitzung des EZB-Rats, sondern auch nach der Pressekonferenz als Reaktion auf die angekündigte Zinswende gesunken.

Das heißt, die Aktienmärkte rechnen jetzt mit noch größeren Verlusten, weil höhere Zinsen normalerweise die Aktienkurse drücken.

Grüner: Genau.

Hat die EZB auch Sie mit ihren Beschlüssen überrascht?

Grüner: In gewissem Maße schon. Dass der Leitzins im Juli um einen Viertelprozentpunkt steigen soll, ist für sich genommen keine große Überraschung. Aber EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat klargestellt, dass der zweite Zinsschritt im September durchaus größer ausfallen kann. Bisher wurde darüber spekuliert, dass der Leitzins bis Jahresende in drei Etappen auf 0,75 Prozent steigen könnte, dieses Niveau könnte schon im Herbst erreicht werden. Und Lagarde hat keine Zweifel darüber aufkommen lassen, dass dies für 2022 nicht das Ende sein muss.

Wie lautet also Ihr Fazit?

Grüner: Die EZB hat den Ernst der Lage erkannt. Sie ist aufgewacht. Die EZB hat mehr getan, als die Marktteilnehmer von ihr erwartet hatten. Ich finde es auch nicht verkehrt, dass der Zentralbankrat zunächst nur kleine Schritte machen will. Das hat den Vorteil, dass die EZB deren Wirkung beobachten kann. Es würde ihr dann auch leichter fallen nachzusteuern.

Experte aus Mannheim

  • Hans Peter Grüner (Jahrgang 1966) wurde in Marburg geboren. Er ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim und hat dort den Lehrstuhl Wirtschaftspolitik inne.
  • Grüner studierte an der Universität Heidelberg Wirtschaftswissenschaften und Mathematik und schloss das Studium 1990 als Diplom-Volkswirt ab.
  • Zu den Spezialgebieten des Wissenschaftlers gehört die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. was

Also alles super?

Grüner: Das Problem ist: Die EZB will keine Zinsschritte machen, bevor sie die Ankäufe von Staatsanleihen beendet. Man kann nur darüber mutmaßen, warum sie diese nicht schon früher gestoppt hat. Das scheint mir jedenfalls der Hauptgrund dafür zu sein, warum der Leitzins erst im Juli steigen soll. Denkbar ist, dass die EZB Hemmungen hatte, dies zu tun, weil dann die Risikoaufschläge für Anleihen hoch verschuldeter Staaten wie Italien noch höher steigen würden, als es bereits der Fall ist.

Hans Peter Grüner © Grüner

Die EZB hätte also am Donnerstag den Stopp der Käufe rein technisch ab sofort vollziehen können?

Grüner: Klar. Aber der Zins für italienische Staatsanleihen mit einer Laufzeit von zehn Jahren liegt schon etwa 2,2 Prozent über dem der deutschen. Der Risikoaufschlag ist deutlich angestiegen - trotz aller beruhigender Worte der EZB. Im Vergleich zum letzten Jahr ist er um etwa 1,1 Prozentpunkte gestiegen. Da können Sie sich ausmalen, was passieren würde, wenn die EZB die Ankäufe am Donnerstag überraschend sofort gestoppt hätte.

Würden Sie die angekündigte Zinswende als einen Befreiungsschlag bezeichnen?

Grüner: Nein. Den gibt es mit Blick auf hohe Inflation auch nicht. Es dauert einfach Zeit, bis Zinsänderungen wirken. Das ist für die Konsumenten bedauerlich, weil die sich wünschen, dass der rapide Preisanstieg mit einem großen Schlag gestoppt wird.

Wie lange dauert es dann, bis die Inflation spürbar sinkt?

Grüner: Das Problem ist, dass bei der Inflation verschiedene Faktoren gleichzeitig eine Rolle spielen. Die EZB hat nicht auf alle Einfluss und ist deshalb nicht allein Herrin der Lage. Ein wichtiger Akteur, der für die hohen Energiepreise verantwortlich ist, ist Wladimir Putin.

Auf die Energiepreise hat die EZB aber zumindest indirekt Einfluss. Wenn die Zinsen steigen, steigt auch der Euro-Kurs, und das macht Importe billiger.

Grüner: Das stimmt. Aber wenn Putin im Herbst einfach den Gashahn zudreht, ist auch die EZB machtlos. Die EZB kann auch das Lieferkettenproblem nicht lösen. Sie konnte auch nicht damit rechnen, dass China eine neue Omikron-Welle durchstehen musste. Es waren also nicht immer Fehleinschätzungen der EZB, die für die hohe Inflation verantwortlich waren. Und im Ernst: Den Krieg in Russland konnte sie natürlich auch nicht vorhersehen.

Naja, seitdem sind aber dreieinhalb Monate vergangen.

Grüner: Wir sind uns ja einig, dass die EZB recht lange gewartet hat. Und eine andere Sache hätten die Zentralbanker schon vorhersehen können, ich habe bereits 2020 davor gewarnt. Es war klar, dass die Menschen nach der Pandemie ihr Erspartes wieder ausgeben würden. Das treibt natürlich die Preise. Aber das ist jetzt Schnee von gestern. Wichtig ist, dass die EZB die Zeichen der Zeit erkannt hat. Frau Lagarde hat klar gemacht, dass sie das Inflationsziel zwei Prozent mittelfristig wieder erreichen will. Und sie hat vermutlich auch erkannt, dass es zu politischen Verwerfungen kommen kann, wenn ihr das nicht gelingt. Die Kritik an der EZB ist in den deutschen Medien schon jetzt sehr groß.

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Rausschmeißen kann man Lagarde aber nicht, selbst wenn sie völlig versagen sollte.

Grüner: Die Zentralbank ist aus gutem Grund unabhängig und frei von politischem Druck, weil sonst der Schritt zur monetären Staatsfinanzierung klein wäre. Dann wäre die Geldwertstabilität gefährdet. Diese Unabhängigkeit würde natürlich auch eine Zentralbank schützen, die bei der Inflationsbekämpfung hinter den Erwartungen zurückbleibt.

EZB-Chefin Lagarde hat allerdings sehr interessante Details zu den Staatsanleihenkäufen preisgegeben.

Grüner: Die haben mich gelinde gesagt beunruhigt. Die EZB hat bisher zwei Anleiheprogramme aufgelegt. Eines davon läuft am 1. Juli aus. Das Volumen beträgt rund 3,2 Billionen Euro. Das andere, das Pandemie-Programm PEPP, hat ein Volumen von 1,7 Billionen Euro. In der Summe sind das fast fünf Billionen Euro.

Das ist doch eine unglaublich hohe Summe.

Grüner: Richtig. In diesem Portfolio werden immer wieder Anleihen fällig. Die Staaten müssen dann diese Anleihen wieder zurückzahlen. Da die EZB die Ankäufe auslaufen lassen will, könnte sie dieses Geld - bildlich gesprochen - in den Shredder stecken und so Geldmenge und Preise senken. Das macht sie aber nicht. Sie legt das Geld in neue Staatsanleihen an.

Es bleiben also fünf Billionen Euro im Portfolio?

Grüner: Exakt. Es wird nicht weniger.

Das ist aber schlecht.

Grüner: Das hängt von der jeweiligen Lage ab. Es ist aber nur die halbe Geschichte. Die Europäische Zentralbank hat sich zuerst verpflichtet, Staatsanleihen der Mitgliedsländer nur im Verhältnis ihrer Kapitalanteile zu kaufen. Beim PEPP-Pandemieprogramm hieß es dann plötzlich: Davon können wir mal abweichen, wenn es in einem Mitgliedsland besonders brennt. Jetzt hat Lagarde endgültig die Katze aus dem Sack gelassen. Bei diesen PEPP-Reinvestitionen spielt der sogenannte Capital Key möglicherweise überhaupt keine Rolle mehr.

Was heißt das?

Grüner: Die EZB will freie Hand haben, um auf dem Staatsanleihenmarkt zu reagieren, wenn ihr die Risikoaufschläge bestimmter Länder zu groß erscheinen. Das Problem dabei ist: Diese Staaten müssen dafür aber offenbar überhaupt keine Bedingungen mehr erfüllen. Das wäre ein Paradigmenwechsel. Ich bin kein Jurist, habe aber große Bedenken, ob dies vor dem Europäischen Gerichtshof Bestand hätte. Hinzu kommt, dass Christine Lagarde berichtet, dass der EZB-Rat darüber diskutiert hat, ob man diese Ankäufe nicht auch noch dafür benutzt, um gezielt Mittel für die Klimapolitik zur Verfügung zu stellen. Das wäre nach meiner Meinung aber nicht mehr von den EU-Verträgen abgedeckt.

Redaktion Reporter für Politik und Wirtschaft

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