Interview - Christoph Kilger, Co-Chef des Mannheimer Start-ups Aioneers, über gestörte Lieferketten – und die Rolle von Nachhaltigkeit

Mannheimer Lieferketten-Experte: „Engpässe werden nicht schnell verschwinden“

Von 
Alexander Jungert
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© istock. Aioneers

Mannheim. Herr Kilger, vor Corona scheinen sich die wenigsten Unternehmen Gedanken über ihre Lieferketten gemacht zu haben.

Christoph Kilger: Das stimmt.

Warum war das so?

Kilger: Viele Geschäftsführungen und Vorstände haben nur in Richtung Vertrieb, Kunden und Innovation geschaut. Die Supply Chain wurde als gegebener, funktionierender Mechanismus angenommen. Dabei ist viel Potenzial zum Optimieren liegengeblieben. Das war egal, als es wirtschaftlich gut genug funktioniert hat. Aber das tut es mittlerweile eben nicht mehr. In so einer Kette kann Ware nun mal fehlen. Dann muss eine Risikoabsicherung her. Was, wenn der Bedarf steigt? Was, wenn Teile aus China nicht ankommen?

China ist ein gutes Stichwort. Produktion soll aus Asien nach Europa und Deutschland geholt werden. Aber das passiert nicht von heute auf morgen. Was können wir in der Zwischenzeit tun?

Kilger: Das was da ist, optimal nutzen. Verschwendung vermeiden. Langfristig denken. Gut geführte Familienunternehmen sind Konzernen dabei teilweise überlegen, weil sie entwickelte Strategien länger durchhalten.

Wieso das?

Kilger: Bei großen börsennotierten Unternehmen gibt es oft die Abhängigkeit von der Besetzung des Vorstands. Ein neuer Vorsitzender oder eine neue Vorsitzende macht in der Regel alles anders als der Vorgänger oder die Vorgängerin. Zudem sind börsennotierte Konzerne mehr getrieben durch den Kapitalmarkt. Sie müssen kurzfristig frohe Botschaften verkünden, damit Aktionäre und Analysten happy bleiben. Bei Familienunternehmen ist die Top-Leitungsebene häufig langfristiger besetzt.

Aioneers - Gegründet im Lockdown

  • Aioneers wurde 2020 während des ersten Corona-Lockdowns gegründet. Sitz ist Mannheim in einem Büro im Quartier Q6/Q7.
  • Christoph Kilger, promovierter Informatiker, ist Co-Geschäftsführer. Er stammt aus Saarbrücken und hat am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) studiert.
  • Ziel von Aioneers: Neue Technologien zu entwickeln, um die Lieferketten (engl. Supply Chains) von Kunden zu analysieren, zu optimieren und die Umsetzung von Entscheidungen zu unterstützen. Kilger beschreibt es mit einem digitalen Kontrollturm.
  • Aioneers hat sich bisher komplett eigenfinanziert - durch Eigenmittel, Beratung und Corona-Hilfen. Etwa 20 Kunden sitzen vor allem in Deutschland und Europa. Der nächste Schritt ist die Expansion auf den amerikanischen Markt.
  • Das Start-up will den Umsatz im nächsten Jahr auf mehr als zehn Millionen Euro steigern. Es ist nach eigenen Angaben profitabel.
  • Aioneers hat derzeit 97 Beschäftigte. Der Name leitet sich ab von „pioneers“, also Pioniere, gekoppelt mit „ai - artificial intelligence“, also künstlicher Intelligenz. Aioneers setzt künstliche Intelligenz-Verfahren ein, um Lieferketten zu optimieren.
  • Am Dienstag, 21. Juni, veranstaltet aioneers in der Manufaktur Mannheim ab 9 Uhr das 1. Supply Chain Forum mit Unterstützung der Wirtschaftsförderung der Stadt Mannheim und des Netzwerks Smart Production. Rund 100 Teilnehmer werden vor Ort und per Online-Teilnahme über Digitalisierung und Nachhaltigkeit in Lieferketten diskutieren.
  • Infos und Anmeldung über www.supplychainforum.org.

Wird die Globalisierung komplett zurückgefahren?

Kilger: Durch Globalisierung entsteht viel Wertschöpfung, freier Handel erhöht den Wohlstand. Deshalb glaube ich nicht, dass wir das ganz aufgeben wollen. Aber: Wenn globale Wertschöpfungsketten gestört sind, bringt das alles durcheinander. Auch in Zukunft wird es Pandemien, Naturkatastrophen und bewaffnete Konflikte auf der Welt geben. Es muss zu einer Balance kommen. Mehr Regionalisierung ist also ein ergänzender Schritt, um sich abzusichern und um Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.

Wie kommt hier Nachhaltigkeit ins Spiel?

Kilger: Supply Chains sind der größte Verbraucher natürlicher Ressourcen. Produkte werden aus Rohmaterialien hergestellt, dabei wird Energie verbraucht. Die Güter müssen transportiert werden, der Warenverkehr hinterlässt einen viel größeren CO2-Fußabdruck als der Personenverkehr. Wenn ich mit ähnlichen Kosten in Deutschland und China produzieren kann, ist Deutschland schon allein umweltfreundlicher, weil der Transport wegfällt.

Nachhaltigkeit bedeutet neben Klimaschutz auch das Einhalten ethischer Standards, zum Beispiel die Vermeidung von Kinderarbeit. Das Lieferkettengesetz soll dabei helfen. Was halten Sie davon?

Kilger: Viele Firmen kennen ihre Lieferantenbasis nicht vollständig. Wenn man sich dann noch die Lieferanten der Lieferanten anschaut, kommen am Ende zigtausende Unternehmen auf der ganzen Welt heraus. Dass einer allein dieses ganze Netzwerk beherrschen soll, ist unmöglich. Ich glaube, dass die Verbände dem Gesetzgeber das klarmachen werden.

Wie soll es dann gehen?

Kilger: Über rekursive Beziehungen. Das heißt, ein Unternehmen verpflichtet seine direkten Lieferanten, die Gesetze einzuhalten. Jede Stufe muss dann ihrerseits ihre Lieferanten verpflichten.

Welche Trends sehen Sie im Lieferketten-Management?

Kilger: Erstens: Die Supply Chain wird in den nächsten zehn Jahren auf der Agenda des Top-Managements bleiben. Denn die Engpässe werden nicht so schnell verschwinden, hinzu kommt der Umbau des Wirtschaftssystems hin zu Nachhaltigkeit. Zweitens: Wir werden lernen, welche Rolle die Digitalisierung spielt. Sensorik - Stichwort Industrie 4.0 - macht transparent, was in der Supply Chain passiert und ob alles funktioniert. Zudem hilft die Digitalisierung, ein genaues Bedarfsbild der Kunden zu erstellen, um das Richtige zu produzieren, Verschwendungen und Emissionen zu vermeiden. Drittens: Es wird in Deutschland wegen des Fachkräftemangels eine weitere Arbeitsteilung geben bis hin zur Automatisierung von Planungs- und Steuerungsprozessen in der Supply Chain.

Redaktion berichtet aus der regionalen Wirtschaft

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