Mannheim. Die Zahl der Firmenpleiten in Deutschland und in der Region wird ab Oktober steigen, sagt Oliver Dangmann, Chef der Wirtschaftsauskunftei Creditreform in Mannheim und Heidelberg. Das liege nicht nur daran, dass zahlungsunfähige Unternehmen ab 1. Oktober wieder einen Insolvenzantrag stellen müssen, sagt er. Viele Firmen, denen es bislang vermeintlich gut gehe, hätten inzwischen ihre Reserven aufgebraucht oder müssten demnächst Kredite zurückzahlen. Den Höhepunkt der Insolvenzwelle erwartet Creditreform im ersten Quartal 2021.
Herr Dangmann, Creditreform ist nicht nur Wirtschaftsauskunftei, sondern auch eines der größten Inkasso-Unternehmen. Haben Sie im Moment viel zu tun?
Oliver Dangmann: Wenn die Zeiten wirtschaftlich so unsicher sind wie jetzt, wollen unsere Kunden vor allem wissen, wie es um die Bonität ihrer Geschäftspartner steht. Entsprechend ist unser Monitoring-Service, also die aktive Warnfunktion, wenn sich bei Kunden oder Lieferanten etwas verschlechtert, sehr gefragt. Auf der anderen Seite stellen wir fest, dass sich viele Firmen scheuen, offene Rechnungen einzutreiben. Sie haben Hemmungen, in der Krise Druck auszuüben. Das ist menschlich verständlich, kann sie aber selbst wirtschaftlich in Schwierigkeiten bringen. Unsere Empfehlung: einmal erinnern, einmal mahnen - und dann ans Inkasso abgeben.
Trotz Corona-Krise gab es im Bundesschnitt bisher weniger Firmenpleiten als 2019. Wie sieht es in der Region aus?
Dangmann: Ähnlich paradox wie im Rest des Landes. In fast allen Kreisen und Städten der Region ist die Zahl der Insolvenzen gesunken - obwohl wir uns in der größten Rezession seit über 70 Jahren befinden. Das hat zwei Gründe: Erstens waren zahlungsunfähige und überschuldete Firmen in den letzten Monaten nicht wie sonst verpflichtet, Insolvenzantrag zu stellen. Zweitens konnten sich viele durch staatliche Hilfen über Wasser halten. Insgesamt ist dadurch eine gefährliche Situation entstanden.
Die berühmten Zombie-Unternehmen. . .
Dangmann: Genau. Im Moment sind viele Firmen noch am Markt, obwohl sie eigentlich pleite sind. Das heißt, sie beziehen Produkte oder Dienstleistungen, können sie aber nicht bezahlen. Für gesunde Unternehmen ist das ein großes Risiko. Viele Pleiten entstehen, weil Firmen Ware produzieren und an Geschäftspartner liefern, kein Geld dafür bekommen und dann selbst in Schieflage geraten.
Durch die Corona-Krise war aber auch bei vielen gesunden Unternehmen plötzlich das Geld knapp. Hätten sie alle Insolvenzantrag stellen sollen?
Dangmann: Nein, am Anfang der Krise war es richtig, die Antragspflicht auszusetzen. Die Firmen sind von der Pandemie überrascht worden und haben so Zeit bekommen, Kredite zu beantragen, mit Lieferanten und Kunden zu sprechen und Lösungen zu suchen. Ich halte es aber für falsch, auch jetzt noch Unternehmen durchzuschleppen, die bisher die Kurve nicht gekriegt haben. Die Insolvenzantragspflicht für zahlungsunfähige oder überschuldete Betriebe hat ja einen Sinn: Sie soll andere Firmen und Banken vor Ausfällen schützen. Wenn ich dieses Warnsystem ausschalte, steigt das Risiko für alle Marktteilnehmer.
Trotzdem hat die Bundesregierung beschlossen, dass ein Teil der Unternehmen weiter keine Insolvenz anmelden muss.
Dangmann: Das stimmt. Allerdings gilt das nur für überschuldete Unternehmen. Betriebe, die zahlungsunfähig sind, müssen ab 1. Oktober wieder einen Insolvenzantrag stellen. Ich fürchte aber, dass das nicht allen Unternehmern so klar ist.
Zahlungsunfähig oder überschuldet - wo ist der Unterschied?
Dangmann: Zahlungsunfähigkeit bedeutet, dass das Unternehmen nicht in der Lage ist, innerhalb von drei Wochen 90 Prozent seiner Verbindlichkeiten zu begleichen. Als überschuldet gilt eine Firma, wenn ihre Verbindlichkeiten höher sind als ihr Vermögen - es sei denn, es ist wahrscheinlich, dass der Betrieb trotzdem fortgeführt wird. Die Definition ist also ziemlich schwammig. Fakt ist: Bei neun von zehn Insolvenzen sind die Unternehmen zahlungsunfähig. Die jetzt verlängerte Ausnahme für überschuldete Fälle gilt also nur für einen Bruchteil der Betriebe.
Das heißt, die Region steht unmittelbar vor einer Pleitewelle?
Dangmann: Das wird in der Region nicht viel anders sein als in anderen Teilen Deutschlands. Unsere Prognose ist, dass die Insolvenzzahlen ab Oktober steigen, allerdings erstmal nicht dramatisch. Die Amtsgerichte, die selbst im Corona-Modus sind, müssen die ganzen Anträge ja erst mal abarbeiten. Die große Welle erwarten wir im ersten Quartal 2021. Das liegt übrigens nicht nur daran, dass jetzt wieder Insolvenzanträge gestellt werden müssen. Viele Firmen, denen es bisher vermeintlich gut geht, müssen demnächst ihre Kredite zurückzahlen, bei anderen sind die Eigenkapital-Reserven aufgebraucht. Und die Banken schauen gerade sehr genau, wem sie Geld geben und wem nicht. Für viele Betriebe wird es langsam richtig eng.
In welchen Branchen schlummern die meisten Zombie-Unternehmen?
Dangmann: In der Gastronomie und Hotellerie, im Tourismus, aber auch im Kultur- und Sportbereich, in der Messebranche und im Einzelhandel. In diesen Branchen können wir zumindest in anderen Regionen sehen, dass sich die Zahlungsmoral deutlich verschlechtert hat und die Firmen länger auf ihr Geld warten müssen. Hier im Rhein-Neckar-Raum lässt sich das allerdings noch nicht explizit erkennen. Innerhalb der Branchen gibt es Unterschiede, zum Beispiel in der Hotellerie: Ich war im Sommer im Allgäu, da war alles komplett ausgebucht. Das sieht in einem Business-Hotel in Mannheim vermutlich anders aus.
Wie ist die Lage bei den Verbraucherinsolvenzen?
Dangmann: Da macht sich die Krise noch nicht bemerkbar, auch, weil wir so gute Instrumente wie die Kurzarbeit haben. Außerdem haben die Menschen zuletzt weniger Geld ausgegeben. Viele sind nicht in Urlaub gefahren, Restaurant- oder Kinobesuche fielen über Wochen weg. Wir gehen aber davon aus, dass mit der bevorstehenden Welle an Firmeninsolvenzen auch die Arbeitslosenzahlen steigen und wir in ein bis eineinhalb Jahren deutlich mehr Verbraucherinsolvenzen sehen.
Zur Person: Oliver Dangmann
- Oliver Dangmann (51), ist seit 2004 geschäftsführender Gesellschafter der Wirtschaftsauskunftei Creditreform in Mannheim, seit 2013 leitet er zudem die Niederlassung in Heidelberg.
- Der Diplom-Kaufmann studierte Betriebswirtschaft an der Universität Mannheim und arbeitete anschließend unter anderem als Produktmanager beim Süßwarenhersteller Ferrero.
- Creditreform ist nach eigenen Angaben Deutschlands führende Wirtschaftsauskunftei. Sie sammelt und vermarktet Daten über die Bonität, also die Kreditwürdigkeit, von Unternehmen und Privatpersonen. Als Inkasso-Dienstleister unterstützt Creditreform Firmen zudem dabei, Außenstände bei säumigen Geschäftspartnern einzufordern. (tat)
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