Berlin. Die Unternehmerfamilie Reimann mit Wurzeln in der Metropolregion Rhein-Neckar hat sich dem wohl dunkelsten Kapitel ihrer Geschichte gestellt und die Jahre des Nationalsozialismus (1933-1945) von Wirtschaftshistoriker Paul Erker aufarbeiten lassen. Das Ergebnis: Alfred Reimann jr. und sein Vater waren überzeugte Nationalsozialisten und Antisemiten. Der Ludwigshafener Chemiekonzern Benckiser, aus dem die heutige JAB-Holding der Milliardärsfamilie hervorging, hatte Hunderte Zwangsarbeiter rekrutiert.
„Über 800 Namen von ehemaligen Zwangsarbeitern wurden recherchiert“, sagt Andreas Eberhardt, Geschäftsführer der Alfred Landecker Stiftung. Die noch junge Stiftung ist die Reaktion der Milliardärsfamilie auf die Erkenntnis, welche Rolle ihre Vorfahren in der NS-Zeit gespielt hatten. Die Betroffenen zu finden und finanziell zu unterstützen – das ist eine Aufgabe der Familienstiftung. Dafür stehen fünf Millionen Euro zur Verfügung.
„Es ist eine schwierige und aufwendige Suche“, so Eberhardt. Eine dafür beauftragte Forscherin konnte bislang nur zu rund 30 der ehemaligen Zwangsarbeiter oder ihren Angehörigen Kontakt aufnehmen. Eberhardt hofft, erste symbolische Hilfestellungen im nächsten Halbjahr auszahlen zu können.
Weitere fünf Millionen Euro gehen an die Organisation Claims Conference, die sich weltweit für die etwa 400 000 Überlebenden des Holocaust einsetzt. Die Reimanns führten 2019 mit einem Vermögen von 35 Milliarden Euro das Ranking der reichsten Deutschen des „Manager Magazins“ an. Zur Dachgesellschaft JAB-Holding gehören unter anderem Jacobs-Kaffee und der Kosmetikkonzern Coty.
Die aktuellen Einschränkungen während der Corona-Krise seien für die Holocaust-Überlebenden besonders bedrückend, berichtet Eberhardt. Jenseits der 70 Jahre und belastet mit Gewalterfahrungen würden sich nun ausgerechnet jene Menschen in Quarantäne wiederfinden, die jahrelang in Konzentrationslagern eingesperrt waren: „Das kann traumatische Erinnerungen wecken.“ Damit die Betroffenen in Isolation weiter mit ihren Helfern und Betreuern in Kontakt bleiben können, hat die Alfred Landecker Stiftung im Rahmen eines Corona-Nothilfe-Fonds mehr als 1,2 Millionen Euro unter anderem für Computer, Handys und Software bereitgestellt. Außerdem könne mit dem Geld „rasch und unkompliziert“ bei gesundheitlichen Belangen oder psychischen Bedürfnissen geholfen werden, so Eberhardt.
„Wir sind ein hundertjähriges, rein arisches Familienunternehmen. Die Inhaber sind unbedingte Anhänger der Rassenlehre“, schrieb Alfred Reimann junior 1937. Er und sein Vater schlossen sich der NSDAP an, spendeten Geld an die SS, die den Holocaust mitorganisierte. „Die Erinnerung, wie die Ermordung von etwa sechs Millionen Juden möglich wurde, verblasst in unserer Gesellschaft“, mahnt der Stiftungsdirektor. „Es schleicht sich wieder das Narrativ ein, am Holocaust wäre nur eine kleine Gruppe von Tätern beteiligt gewesen und man habe nichts dagegen tun können. Das ist falsch.“ Aus diesem Grund ist die zweite große Aufgabe der Stiftung, Anfänge eines solchen Hasses zu erkennen und einer Wiederholung entgegenzutreten. Insgesamt 25 Millionen Euro zahlt die Unternehmerfamilie jährlich für Bildungsprojekte zur Förderung der Demokratie und zur Vorbeugung von Antisemitismus.
Eigener Lehrstuhl in Oxford
Am 27. Januar, zum 75. Holocaust-Gedenktag, startete die erste Initiative der Landecker-Stiftung: ein neuer Lehrstuhl an der Universität Oxford. Studieninhalte sind ab dem Wintersemester die Erforschung der Verfolgung und des notwendigen Schutzes von Minderheiten. „Das ist der erste Schritt, mit dem wir ein akademisches Netzwerk zur Stärkung einer demokratischen europäischen Gesellschaft aufbauen wollen“, so Eberhardt. Projekte zur Stärkung der Zivilgesellschaft sollen folgen.
In Europa würden sich gefährliche Veränderungen zeigen. „Die Annahme, dass Europa immer weiter zusammenwächst, erweist sich als falsch. Stattdessen beobachten wir eine Rückkehr der Grenzen und des Nationalismus. Zugleich nimmt die Ausgrenzung von Minderheiten zu“, sagt Eberhardt. „Diese Entwicklungen müssen wir sehr ernst nehmen und rechtzeitig damit beginnen, sie einzudämmen. Ein geeintes und friedliches Europa ist die Lehre, die wir aus dem 8. Mai 1945 ziehen.“
Alfred Landecker
- Die frühere Benckiser Stiftung Zukunft trägt nun den Namen von Alfred Landecker, einem deutsch-jüdischen Buchhalter.
- 1942 wurde er von Mannheim nach Izbica deportiert, einem Ghetto, das als Durchgangsstation für die Deportation von Juden in die Vernichtungslager Belzec und Sobibór diente. Dort wurde er wahrscheinlich ermordet.
- Er war der Vater von Emilie Landecker, die mit Albert Reimann jr. drei Kinder hatte. Zwei sind Gesellschafter der JAB-Holding, die aus dem Ludwigshafener Chemieunternehmen Benckiser hervorging. soge
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/wirtschaft_artikel,-wirtschaft-europa-ist-die-lehre-aus-dem-8-mai-_arid,1637392.html