Mannheim. Egal ob Koch, Bürokauffrau, Mechatroniker oder Chemikantin - in der Region haben die Unternehmen wenige Monate vor dem Start des neuen Ausbildungsjahrs noch zahlreiche Lehrstellen frei. Allein in den Ausbildungsplatzbörsen der Industrie- und Handelskammer Rhein-Neckar und der Handwerkskammer Mannheim Rhein-Neckar- Odenwald sind für 2022 zusammen noch mehr als 1300 offene Angebote gemeldet. Weitere 717 freie Plätze zeigt die Lehrstellenbörse im Kammerbezirk der IHK Darmstadt an.
„Wer noch zögern sollte: Gebt euch einen Ruck! Bewerbt euch jetzt! Es lohnt sich!“, appellierte Manfred Schnabel, Präsident der IHK Rhein-Neckar, am Montag auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der Handwerkskammer an junge Menschen in der Region.
Sorge bereitet den Kammern unter anderem, dass in der Pandemie der Kontakt zu vielen Jugendlichen abgerissen ist: Sie seien nicht mehr im Schulsystem, tauchten aber auch nicht am Ausbildungsmarkt auf. „Die Frage ist: Wo sind diese Jugendlichen geblieben?“, so Schnabel. Viele junge Menschen und teilweise auch deren Eltern hätten möglicherweise die „völlig falsche Vorstellung“, dass es keine Lehrstellen gebe, und würden sich deshalb gegen eine Bewerbung entscheiden. „Dabei gibt es im Moment in allen Bereichen noch ganz viele Chancen, auch für Jugendliche, die vielleicht nicht so einen tollen Abschluss haben“, bekräftigte Claudia Orth, Leiterin des Bereichs Berufliche Bildung bei der Handwerkskammer.
Unter dem Strich hat sich für die Unternehmen der Region also das Problem verschärft, das es schon vor der Corona-Krise gab: Sie haben immer größere Schwierigkeiten, passende Kandidaten für ihre Lehrstellen zu finden. Das zeigt auch eine Umfrage der IHK Rhein-Neckar: Demnach konnte zuletzt jeder Ausbildungsbetrieb im Schnitt 2,1 Ausbildungsplätze nicht besetzen. „Das heißt, wir haben alleine im noch laufenden Jahr rund 4000 offene Lehrstellen“, so Schnabel.
Zwei Drittel der befragten Unternehmen gaben dabei als Begründung an, dass es an geeigneten Bewerbern gefehlt habe. Ein Drittel habe erst gar keine Bewerbungen bekommen. In Südhessen stehen die Betriebe vor dem gleichen Dilemma wie in Rhein-Neckar: „Auch in unserem Kammerbezirk gelingt es nicht, die Ausbildungsplätze zu besetzen. Das wird von Jahr zu Jahr schwieriger“, sagt Torsten Heinzmann, Teamleiter bei der IHK Darmstadt. Die Zahl der offenen Ausbildungsplätze sei aktuell höher als in der Zeit vor Corona. Bei der Handwerkskammer fällt die Entwicklung ebenfalls drastisch aus: In deren Bezirk waren im Mai 2019, also vor der Pandemie, knapp 280 freie Lehrstellen gemeldet. Im Mai 2022 waren es mehr als 500. Schwer habe es zum Beispiel die Lebensmittelbranche: „Viele Bäcker und Fleischer finden keine Auszubildenden mehr.“
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Besonders große Sorgen macht man sich bei der IHK Rhein-Neckar über die Situation im Neckar-Odenwald-Kreis. Dort lag die Zahl der neu geschlossenen Ausbildungsverträge Ende Mai um 21,3 Prozent unter dem Vorjahresniveau. „Das gibt uns vor allem auch zu denken, weil wir dort unheimlich viel getan haben, um junge Menschen für eine duale Ausbildung zu gewinnen“, so IHK-Präsident Schnabel. Trotzdem habe man den Trend nicht stoppen können.
Wie also kann die Wende auf dem Ausbildungsmarkt gelingen? Handwerkskammer-Präsident Klaus Hofmann drängt auf ein gesellschaftliches Umdenken: „Wir brauchen einen Imagewandel, einen gesellschaftlichen und politischen Wandel, was die Bewertung von Arbeit anbelangt, einen Wandel im Bewusstsein, dass Ausbildung ebenso viel zählt wie ein Studium, einen Bildungswandel.“ Für viele junge Menschen stehe eine Ausbildung gar nicht zur Debatte, weil sie weder von Familie noch von Freunden oder in der Schule thematisiert werde.
Auch IHK-Präsident Schnabel fordert eine gemeinsame Kraftanstrengung von Politik, Kammern und Gewerkschaften, um die berufliche Bildung zu stärken. „Wir brauchen einen Solidarpakt.“ „Gerade an den Gymnasien würden wir uns bei den Schulleitungen mehr Aufgeschlossenheit für das Thema duale Ausbildung wünschen.“
Die Ampel-Koalition in Berlin will die Krise am Lehrstellenmarkt unterdessen mit einer Ausbildungsgarantie bekämpfen - so hat sie es jedenfalls im Koalitionsvertrag festgehalten. Wie die Regelung konkret aussehen soll und wann sie kommt, ist laut Bundesarbeitsministerium aber noch offen. In Baden-Württemberg hatten Jugendverbände der Gewerkschaften und der Grünen erst vor Kurzem ihre Forderung nach einer solchen Garantie bekräftigt. Jugendliche, die keine Lehrstelle in einem Unternehmen finden, sollen demnach die Möglichkeit bekommen, sich in einer überbetrieblichen Einrichtung ausbilden zu lassen. Finanziert werden soll das Ganze über eine Umlage von den Betrieben. Die Lage auf dem Lehrstellenmarkt verschlechtere sich, schreiben die Jugendverbände in einem Appell an die Landesregierung und verweisen auf Zigtausende junge Menschen, die 2021 keinen Ausbildungsplatz gefunden hätten.
In der Wirtschaft stößt die Ausbildungsgarantie auf Ablehnung. „Das wäre der völlig falsche Weg“, sagt IHK-Präsident Schnabel. Auch der Arbeitgeberverband Südwestmetall hatte sich kürzlich gegen das Vorhaben ausgesprochen. „Wir haben keinen Mangel an Ausbildungsplatzangeboten, sondern an Bewerbern“, so Arnd Suck, Geschäftsführer der Bezirksgruppe Rhein-Neckar-Odenwald. Eine Garantieregelung leiste „einem Rückzug der Jugendlichen auf ein enges Spektrum von Wunschberufen Vorschub, statt sie zu motivieren, sich auf die vielen offenen Ausbildungsplätze in den Betrieben zu bewerben.“
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