Berlin. Claus Weselsky lächelt. Vielleicht weiß der Chef der Lokführergewerkschaft GDL da schon, dass er alle überraschen wird. Er rückt sein Redemanuskript gerade, schaut auf die Uhr und beginnt, die Arbeitskampfmaßnahmen zu erläutern. Schon die Ankündigung des Termins für Dienstag hat elektrisiert: Zum Beginn der Ferienzeit in vielen Bundesländern drohen Streiks im Bahnverkehr. Gerade, als die Pandemie abebbt und sich viele auf den Urlaub freuen. Im Vorstand der Deutschen Bahn sind sie alarmiert. Und dann das: keine Streiks. Jedenfalls nicht sofort.
„Nicht bereit, lange zu warten“
Stattdessen will die Gewerkschaft die rund 37 000 aktiven Mitglieder in der ersten Juli-Hälfte zur Urabstimmung über einen Arbeitskampf auffordern. Die Auszählung ist für den 9. August vorgesehen. Danach wolle die GDL streiken, „wenn wie erwartet mehr als 90 Prozent der Mitglieder zustimmen“, sagt Weselsky. „Wir sind dann auch nicht bereit, lange zu warten.“ Die Maßnahmen würden bestimmt nicht auf ein oder zwei Stunden beschränkt.
Im August haben alle Bundesländer außer Berlin, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein noch Schulferien. Ein längerer Streik dürfte viele Pläne durcheinanderbringen, zumal viele Bundesbürger pandemiebedingt in diesem Jahr in Deutschland Urlaub machen und auf die Bahn setzen. Wichtig für alle, die Bahn fahren wollen: Bis zum 9. August wird es keine Warnstreiks geben.
Weselsky begründete die Pläne der Gewerkschaft mit Rechtssicherheit für die Mitglieder, die streiken wollten, und die Bahnkunden, die sich auf einen Streik einstellen müssen. Klagen der Bahn gegen Warnstreiks will die GDL vermeiden. Und noch einen Vorteil sieht der GDL-Chef in den Plänen seiner Gewerkschaft: Es gebe jetzt eine lange Zeit zum Nachdenken. Er meint die Chefetage der Deutschen Bahn und die Bundesregierung als Eigentümer. Immerhin sind im September Bundestagswahlen. Lange Streiks in der zweiten August-Hälfte passen da dem ein oder anderen Wahlkämpfer vielleicht nicht so gut.
Bahn und GDL streiten sich schon länger, die vierte Verhandlungsrunde Anfang Juni hatte die Gewerkschaft abgebrochen und die Verhandlungen für gescheitert erklärt. Die Gewerkschaft fordert im Kern 3,2 Prozent mehr Lohn in zwei Stufen 2021 und 2022, angelehnt an den Tarifabschluss des öffentlichen Dienstes. Die Laufzeit des Vertrags soll 28 Monate betragen. Zudem soll es einmalig 600 Euro Corona-Prämie geben. Außerdem soll die Zusatzrente bestehen bleiben, die die Bahn gerade gekündigt hat, um sie in eine einheitliche Altersvorsorge zu überführen.
Die Bahn bietet 3,2 Prozent mehr Lohn in zwei Schritten, allerdings 2022 und 2023. Die Laufzeit von 40 Monaten orientiert sich am Sonderabschluss im öffentlichen Dienst für Flughäfen, die wegen der Pandemie besonders gelitten haben. Die Bahn bietet einen erweiterten Kündigungsschutz und einen höheren Zuschuss zur Altersvorsorge.
Personalvorstand Martin Seiler hält eine inhaltliche Lösung für greifbar und forderte die GDL auf, wieder zu verhandeln statt zu mauern. Er bezeichnete das Vorgehen der Gewerkschaft allerdings auch als „Geisterfahrt“. Zu dem Zeitpunkt ging er noch davon aus, dass die Gewerkschaft sofort streiken würde. Die Bahn kündigte bereits Notfallfahrpläne an, sollte es soweit kommen.
Die Lage bei der Bahn ist besonders, weil zwei Gewerkschaften um die Gunst der 225 000 Mitarbeiter buhlen: Die GDL und die deutlich größere EVG. Mit der EVG hat sich die Bahn im Herbst 2020 auf einen moderaten Tarifabschluss geeinigt. Ein Gesetz regelt, dass jeweils die Gewerkschaft Tarifpartner der Bahn ist, die in einem Teilunternehmen die Mehrheit der Beschäftigten vertritt. GDL und Bahn streiten hier vor Gericht in mehr als 30 Verfahren unter anderem über die Abgrenzung.
Jeden Tag Verlust
Sicher ist, dass die Mehrheit der Lokführer in der GDL organisiert ist. Ein Tarifabschluss mit der GDL würde, sollte er besser ausfallen als der Abschluss mit der deutlich größeren Gewerkschaft EVG, auch für alle anderen der 185 000 tarifgebundenen Bahnmitarbeiter gelten, hieß es bei der Bahn. Das habe man mit der EVG vereinbart.
Verschärft wird die Lage, weil die Bahn ihr Angebot während der Pandemie auf Wunsch der Bundesregierung aufrecht erhalten hatte und teils sehr leere Züge durch Deutschland fuhren. Das Unternehmen habe in den vergangenen 15 Monaten jeden Tag Verlust geschrieben, sagte ein Manager. „Wir robben uns gerade an die schwarze Null heran.“ Im vergangenen Jahr hatte der Konzern einen Verlust von sechs Milliarden Euro ausgewiesen, die Schulden sind auf mehr als 30 Milliarden Euro gestiegen. Die Bahn muss sparen, gleichzeitig aber ein großes Investitionsprogramm stemmen. Streiks kommen da nicht gelegen.
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