Recht

Arbeitszeiterfassung ist Pflicht

Mit seiner Urteilsbegründung erhöht das Bundesarbeitsgericht den Druck zur Regelung von Überstunden

Von 
Miguel Sanches
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Eine Arbeitszeiterfassung dient laut Bundesarbeitsgericht dem „Schutz vor Fremd- und Selbstausbeutung“. © Sina Schuldt/dpa

Berlin. Seit Jahren weiß die deutsche Wirtschaft, dass die Arbeitszeiterfassung auf sie zukommt. Bereits 2019 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg entschieden, dass Arbeitgeber Beginn und Ende der Arbeitszeit ihrer Beschäftigten „erfassen“ müssen. Eine Erfassung der Überstunden, wie es in Deutschland bislang Pflicht ist, reicht demnach nicht aus.

Im September hat auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) über den Sachverhalt entschieden. Die Begründung des Richterspruchs folgte jedoch erst im Dezember. Und der dürfte die Arbeitswelt von Millionen Deutschen verändern. Auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) gerät nun unter Handlungsdruck. Gegenüber dieser Redaktion kündigte der SPD-Politiker an, „voraussichtlich im ersten Quartal 2023“ werde er einen „Vorschlag“ für die Ausgestaltung machen. Die wichtigsten Fragen und Antworten:

Welches Ziel verfolgt eine Arbeitszeiterfassung?

Die Arbeitszeiterfassung dient nach den Urteilen von EuGH und BAG dem Arbeitsschutz. Nur eine Erfassung der gesamten Arbeitszeit könne dazu führen, dass die bestehende Obergrenze von in der Regel 48 Wochenstunden eingehalten wird. Die Zeiterfassung ist auch ein „Schutz vor Fremd- und Selbstausbeutung“, sagte die BAG-Präsidentin Inken Gallner. In Deutschland wurden nach Erhebungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit 2021 insgesamt 893 Millionen Überstunden nicht vergütet – und damit 52 Prozent aller geleisteten Überstunden.

Kommt der Richterspruch überraschend?

Ja und nein. Nach EU-Recht stand die Pflicht nach dem EuGH-Urteil längst außer Frage. Die Bundesregierung hatte sie bislang allerdings nicht in nationales Recht umgesetzt. Nach Lektüre des Urteils wird aber klar, dass die Zeiterfassung ab sofort gilt. Das Gericht leitet sie aus dem Arbeitsschutzgesetz ab, das entsprechend der EU-Vorgaben auszulegen sei. Eine Übergangsfrist ist nicht vorgesehen.

Kommt jetzt für Beschäftigte die Stechuhr zurück?

Nicht unbedingt. In den Betrieben besteht laut Gericht erstens „eine objektive gesetzliche Handlungspflicht“, die Arbeitszeit zu erfassen. Zweitens: Ob über Stechuhr, App, Excel-Tabelle im PC oder schlicht auf Papier – das Wie ist den Tarifpartnern überlassen. Jedenfalls genügt es nicht, ein System zur Zeiterfassung bereitzustellen. Darauf hatte schon der Gerichtshof der EU 2019 Wert gelegt. Die Arbeitszeit muss vielmehr tatsächlich festgehalten werden. Zum Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer sei ein „objektives, verlässliches und zugängliches“ System einzuführen, was den Schutz vor zu vielen Überstunden und vor der Missachtung von Ruhepausen einschließt.

Gerät der Bundesarbeitsminister damit unter Zeitdruck?

Wenn Minister Heil gestalten will, muss er sich sputen. Umgekehrt: Solange der Gesetzgeber nichts vorgegeben hat, ist der Spielraum der Tarifpartner besonders groß. Heil will die Urteilsbegründung „eingehend prüfen“. Dann werde sich das Ministerium anschauen, „welche Konsequenzen sich daraus für den Gesetzgeber im Einzelnen ergeben“. Hubertus Heil hat die 22 Seiten lange Urteilsbegründung nicht vor der Öffentlichkeit bekommen.

Gilt das Urteil für jeden Arbeitnehmer?

Für Führungskräfte lässt das Gericht eine Ausnahme offen, wenn es eine nationale Ausnahmeregelung gibt – etwa „weil die Dauer ihrer Arbeitszeit wegen besonderer Merkmale der Tätigkeit nicht bemessen und/oder vorherbestimmt ist“. Denkbar wäre auch, dass die Zeiterfassungspflicht nach Größe eines Betriebes geregelt wird – schon um den bürokratischen Aufwand für kleinere Betriebe zu minimieren.

Wie groß ist der Spielraum der Arbeitgeber?

Sie könnten die Regelung sogar ihren Beschäftigten überlassen. Solange vom Gesetzgeber (noch) keine konkretisierenden Regelungen getroffen seien, bestehe „ein Spielraum“, erklärten die Richter ausdrücklich. So versteht man auch besser Heils Eile. Und: Die Ausgestaltung lasse Raum „für eine Mitbestimmung des Betriebsrates“, betonte das Erfurter Gericht.

Wie groß ist der Druck zur Veränderung?

Experten schätzen, dass nur bei etwa jedem dritten Arbeitnehmer in Deutschland bereits die Arbeitszeit erfasst wird. Zur Wahrheit gehört, dass keine konkreten Geldbußen bei Verstößen vorgeschrieben sind. Auch sie gehören zu Heils Bringschuld. Druck dürften die Arbeitgeber allerdings von unten erfahren: in Unternehmen mit Betriebsräten. Für die Betriebe geht es darum, ob sie agieren oder reagieren. Vermutlich werden viele anfangen, sich auf die Erfassung der Arbeitszeit ihrer Angestellten vorzubereiten.

Wie sind die Reaktionen aus dem Bundestag?

Viele Abgeordnete waren sensibilisiert, haben das endgültige Urteil allerdings noch nicht auf dem Schirm. Der arbeitsmarktpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Frank Bsirske, lobte den Richterspruch. Er stelle sicher, „dass Höchstarbeitszeiten und die Ruhezeiten eingehalten werden“. Der frühere Verdi-Vorsitzende betonte, bei der anstehenden gesetzlichen Regelung solle „ein gewisses Maß an flexiblen Arbeitszeitmodellen, etwa Vertrauensarbeitszeit, weiterhin möglich sein“. Dabei erfassen und teilen sich Beschäftigte die Arbeitszeit selbst ein.

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