Interview

Manfred Schnabel: „Wir müssen das Ideal der sozialen Marktwirtschaft wiederbeleben“

Der frisch wiedergewählte Präsident der IHK Rhein-Neckar sorgt sich um Arbeitsplätze in der Region und eine Jugend, die zu wenig protestiert. Einmischen will sich Manfred Schnabel dafür umso stärker.

Von 
Miriam Scharlibbe
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Manfred Schnabel sorgt sich um die Wirtschaftskraft der Metropolregion Rhein-Neckar. © Christoph Blüthner

Mannheim. Herr Schnabel, wie würden Sie kurz und knapp die Metropolregion beschreiben?

Manfred Schnabel: Ein sehr starker Wirtschaftsstandort, der aber in Gefahr ist: durch Rahmenbedingungen, die in Berlin und Brüssel bestimmt werden, aber auch durch hausgemachte Probleme in der Region.

Gerade für die wirtschaftlichen Probleme wurden zuletzt große Lösungen aus Berlin versprochen. Die Blätter sind bunt, es ist unverkennbar Herbst. Will man unserem Bundeskanzler glauben, sollte dies der Herbst der Reformen sein. Spüren Sie davon schon etwas?

Schnabel: Ich glaube, die Unternehmen sind sich einig darüber, dass der Herbst der Reformen ausfällt. Die Politik hat die Ankündigung ja schon selbst revidiert. Es soll wohl noch ein Frühjahr der Reformen kommen und vielleicht ein Sommer. Der Zeitpunkt ist aber nicht entscheidend, sondern dass es zu wirklichen Strukturreformen kommt. Die Politik hat punktuell Maßnahmen getroffen, die niemandem wehtun, aber auch wenig bringen. Ganz ehrlich, überall dort, wo schmerzhafte Kompromisse notwendig wären, tut sich wenig.

Wie viel Zeit können wir denn der deutschen Wirtschaft überhaupt noch geben, um wieder auf die Beine zu kommen?

Schnabel: Die Situation ist sehr ernst, aber wir müssen genau hinschauen. Noch haben wir eine starke Wirtschaft. Wir haben eine gute Mischung aus international erfolgreichen Großunternehmen, einem unglaublich starken Mittelstand mit vielen Hidden Champions und vielen kleinen leistungsfähigen Unternehmen. Wir haben Stärken, was das Thema Berufsausbildung angeht. Und wir haben momentan noch die Situation, dass wir als Land sehr kreditwürdig und damit handlungsfähig sind, im Gegensatz zu anderen Ländern. Da brauchen Sie nur nach Frankreich blicken. Meine Sorge ist, dass genau diese Stärken schwinden könnten.

Der Begriff "Reform" ist für mich nicht nur positiv besetzt.
Manfred Schnabel Präsident der IHK Rhein-Neckar

Was bedroht unsere Stärken?

Schnabel: Es gibt viele Reformen, die einfach in die falsche Richtung laufen. Der Begriff „Reform“ ist für mich darum auch nicht per se positiv besetzt. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Ein Tariftreuegesetz passt überhaupt nicht zur momentanen wirtschaftlichen Lage. Es schafft zusätzlichen Aufwand, bedeutet viel mehr Bürokratie für Unternehmen, die an öffentlichen Ausschreibungen des Bundes teilnehmen wollen. Oder wenn ich an die Rentenreformen denke, an ein Thema wie Mütterrente oder jetzt die Frage der Aktivrente. Das ist gut gemeint, aber einfach schlecht gemacht. Reine Interessenspolitik. Die eine Partei betreibt Klientelpolitik durch die Förderung der Tarifbindung, dann muss die andere ihre Mütterrente bekommen. Und beides läuft in die falsche Richtung. Das eine schafft mehr Regulierung und das andere wird unser Rentensystem weiter belasten.

IHK-Präsident, Unternehmer, Familienvater: Manfred Schnabel



Manfred Schnabel (Jahrgang 1961) ist seit 2018 Präsident der Industrie- und Handelskammer (IHK) Rhein-Neckar.

Der gebürtige Mannheimer absolvierte eine Ausbildung als Bankkaufmann und studierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität seiner Heimatstadt.

Schnabel ist Geschäftsführender Gesellschafter des Elektrogeräte-Händlers Expert Esch-

Außerdem sitzt er im Vorstand des Vereins Zukunft Metropolregion Rhein-Neckar (ZMRN). was

Welche Reformen bräuchte es stattdessen?

Schnabel: Es gibt Bereiche, in denen Reformen dringend notwendig sind, zum Beispiel bei den sozialen Sicherungssystemen, bei Steuern oder der überbordenden Regulatorik. Ich sehe nicht, dass diese großen Reformen, die dringend notwendig sind, jetzt irgendwie angegangen werden. Das Problem ist die Summe der vielen Belastungen, die die Wirtschaft fesseln.

Noch im Frühjahr haben Sie große Hoffnungen in die neue Bundesregierung gesetzt. Haben Sie die schon wieder begraben?

Schnabel: Man muss das Ganze sehen. Die Ampelparteien sind ja zum Schluss an der Tatsache gescheitert, dass sie keinen Haushalt mehr zusammenbekommen haben. Dann haben sich alle Diskussionen auf die Schuldenbremse und ihre Reform konzentriert. Nun haben wir einen riesigen kreditfinanzierten Spielraum geschaffen und müssen leider feststellen, dass diese Mittel nicht verwendet werden, um zu investieren, sondern um weiter Konsum im regulären Haushalt zu kaschieren. Das ist doch schon sehr desillusionierend. So ist bereits viel Vertrauen verloren gegangen.

Sie kritisieren den „Verschiebebahnhof“. Wo sollte das durch Schulden finanzierte Geld sinnvoller investiert werden?

Schnabel: Die meisten Unternehmen leiden momentan einfach unter zu hohen Kosten. Alles, was dazu dient, diesen Kostendruck zu nehmen, insbesondere bei Personal und Energie, hilft. Wir müssen beispielsweise das Thema der Lohnnebenkosten in den Griff bekommen. Das würde der Breite der Unternehmen und den Arbeitnehmern nützen.

Was noch?

Schnabel: Ein zweites Beispiel wäre das Thema Bildung, genauer die Berufsbildung. Es gibt fast nirgends sonst auf der Welt dieses wunderbare System der dualen Ausbildung, die ein wirkliches Erfolgsmodell ist. Wenn ich mir jetzt anschaue, wie unsere Berufsschulen aussehen und wie wenig in diesen Bereich investiert wird, wie der unter Druck gerät, dann sehe ich, wie hier großes Potenzial verschwendet wird. Einerseits wollen wir dekarbonisieren, andererseits bilden wir immer weniger Elektriker aus. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.

Der gebürtige Mannheimer und studierte Diplom-Kaufmann Manfred Schnabel leitet seit 1995 als Geschäftsführender Gesellschafter die expert ESCH Unternehmensgruppe in Mannheim. Daneben ist Schnabel seit vielen Jahren ehrenamtlich in der regionalen Wirtschaft aktiv. © Christoph Blüthner

Die Metropolregion hat lange Zeit auch davon profitiert, dass sie viele große, starke Unternehmen hatte, die sichere Arbeitsplätze bieten konnten. In den vergangenen Wochen melden immer mehr Unternehmen den Abbau von Arbeitsplätzen. Wird sich dieser Negativtrend fortsetzen?

Schnabel: Grundsätzlich geht es vielen international tätigen Unternehmen ja nicht schlecht. Sondern der Standort Deutschland und damit auch unsere Rhein-Neckar-Region sind unter Druck geraten. Unsere Region ist sehr stark industriell geprägt und hat eine hohe Exportquote. Das wird nun zum Problem, weil es eben aufgrund der gerade besprochenen Rahmenbedingungen immer schwieriger wird, Produkte in Deutschland herzustellen, die international so wettbewerbsfähig sind, dass man sie exportieren könnte. Es gelingt uns so immer weniger, am Wirtschaftswachstum anderer Regionen der Welt teilzuhaben.

Also rechnen Sie mit weiteren Stellenstreichungen?

Schnabel: Ja, das zeigt auch unser aktueller Konjunkturbericht. Da sind die Erwartungen gerade aus der Industrie doch relativ beängstigend. Insofern ist zu befürchten, dass es zu weiterem Arbeitsplatzabbau kommt. Wir dürfen aber nicht nur an die Arbeitsplätze in den ganz großen Betrieben denken. Da sind die Mitarbeiter in der Regel relativ gut abgefedert. An einem Industriearbeitsplatz hängen aber sehr viele Arbeitsplätze in anderen Betrieben, insbesondere in kleinen und mittleren Zulieferern, bei Dienstleistern und so weiter. Und diese Welle der Entlassungen könnte erst noch kommen.

Was würden Sie denn einem jungen Menschen aus Mannheim heute raten, der bald seinen Schulabschluss in der Tasche hat – welchen Beruf sollte er ergreifen? Welche Branche ist noch sicher?

Schnabel: Erstmal würde ich raten, wirklich mit großem Optimismus und Engagement ranzugehen. Dieses Schlechtgerede der jungen Generation, das macht mich geradezu wütend. Ich habe ja selbst noch zwei heranwachsende Kinder. Eines ist gerade im Studium, eines ist in der Schule. Die sind so voller Leben und haben ihre ganze Zukunft noch vor sich. Allerdings müssen sie sich sehr gut überlegen, in welche Berufsfelder sie einsteigen. Viele Dinge werden sich massiv verändern, beispielsweise durch die KI. Und dadurch werden gerade Berufe, die am Schreibtisch stattfinden, weniger werden. Ich sehe aber eine große Zukunft in allen handwerklichen Bereichen und im gewerblich-technischen Bereich. Diese Branchen werden eher boomen.

Der Arbeitsplatz ist der beste Ort der Integration
Manfred Schnabel Präsident der IHK Rhein-Neckar

Gerade der Handel erlebt derzeit keinen Boom. Im Gegenteil: die Konsumlaune hält sich in Grenzen . . .

Schnabel: Ich höre oft, der stationäre Handel sei tot, alles würde nur noch online gekauft. Das stimmt so nicht. Der Online-Anteil im Handel liegt momentan unter 14 Prozent. Vielleicht wird er noch ein wenig weiter steigen. Allerdings ist der Online-Anteil in verschiedenen Branchen auch heute schon deutlich höher. Es gibt also einen Strukturwandel, dem man sich stellen muss. Aber ich bin sehr optimistisch, dass das gelingt. Die Konsumschwäche ist sicherlich ernst zu nehmen. Sie wird für die Unternehmen aber erst zum Problem, wenn sie mit rasanten Kostensteigerungen einhergeht. Wie gut es dem Handel in den Innenstädten geht, ist von Standort zu Standort sehr verschieden.

Wie ist es in Mannheim?

Schnabel: Erstmal begreifen wir uns als Teil der Metropolregion. Da sind immerhin 2,4 Millionen Menschen. Mannheim ist eines von drei Oberzentren und hat viele Jahrzehnte eine wichtige Funktion ausgeübt. Wenn der Ludwigshafener sagte, er gehe in die Stadt, dann meinte er nicht Ludwigshafen, sondern Mannheim. Das heißt aber auch, dass die Leitbranchen Einzelhandel und Gastronomie in Mannheim nur funktionieren, wenn die Menschen aus der gesamten Region mit dem Verkehrsmittel ihrer Wahl problemlos in die City kommen können. Die Mannheimer City gehört immer noch zu den Top-1-Einzelhandelsstandorten in Deutschland, aber wir sind in den vergangenen Jahren leider deutlich abgerutscht.

Nicht nur die Wirtschaft leidet. Insgesamt ist die Stimmung in Deutschland nicht gerade auf ihrem Höhepunkt. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen einer starken Kaufkraft und einer starken Demokratie?

Schnabel: Ich habe das seit Beginn meiner Präsidentschaft im Jahr 2018 immer betont: Es ist ganz wichtig, dass die Mitte der Gesellschaft keine Verlustängste hat, insbesondere auch was die wirtschaftliche Situation anbelangt. In dem Moment, wenn aber Verlustängste zu Verlusten werden, denken wir beispielsweise an die Kaufkraftverluste durch die Inflation der letzten Jahre, in dem Moment hat das auch Auswirkungen auf unser Zusammenleben und auf die Demokratie und stärkt damit natürlich die politischen Ränder. Wir sind jetzt im Vergleich zu 2020 beim Preisniveau der Lebensmittel bei plus 36 Prozent und bei Energiepreisen bei plus 42 Prozent. Hier wurden aus der Verlustangst realer Wohlstandsverlust für den Einzelnen.

Sie sind selbst Unternehmer. Wie viel bekommen Sie mit von genau diesen Sorgen, die Ihre eigenen Mitarbeiter umtreiben?

Schnabel: Viel natürlich! Bei meinem Mitarbeitern gibt es dieselben Sorgen wie in der Gesellschaft. Vor allem die Frage, wie die Zukunft der eigenen Kinder aussieht, treibt sie um.

Betrifft das eine bestimmte Gruppe besonders?

Schnabel: Wir haben tatsächlich alle Altersklassen bei uns vertreten und viele Nationen. Da stelle ich immer wieder fest, dass der Arbeitsplatz der beste Ort der Integration ist. Hier kommen Menschen zusammen, hier werden Vorurteile abgebbaut, wenn sie kollegial zusammenarbeiten. Deswegen ist meine Grundüberzeugung, dass gerade der Arbeitsplatz der Ort der Integration ist: zwischen den Generationen, zwischen den Geschlechtern, aber auch natürlich zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft. Das ist aus meiner Sicht auch der Schlüssel für die Integration von Migranten. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass die Menschen erstmal arbeiten, auch wenn sie die Sprache vielleicht noch nicht perfekt beherrschen.

Vor einigen Wochen haben Sie viele langjährige IHK-Mitglieder für Ihre Mitgliedschaft geehrt. Unter den Gewürdigten war auch Malte Kaufmann, einst CDU-Mitglied, seit 2017 AfD-Politiker und für diese Partei inzwischen auch im Deutschen Bundestag. Wie gehen Sie damit um, dass Sie immer wieder auch in Situationen kommen, in denen Sie Menschen begegnen, die vielleicht Meinungen haben, die man mindestens als kontrovers betrachten kann?

Schnabel: Ich will das ein bisschen abschichten. Die eine Frage ist, wie ich in meiner Rolle als IHK-Präsident agieren kann. Und als solcher habe ich zunächst einmal die gesetzliche Lage zu beachten. Wir haben ein IHK-Gesetz und darauf aufbauend eine Satzung und verschiedene Richtlinien. Gemäß unserer Ehrungsrichtlinie ehren wir alle fünf Jahren Unternehmerinnen und Unternehmer, die sich über eine lange Zeit in unserer Vollversammlung ehrenamtlich engagiert haben. In diesem Jahr habe ich 50 Vollversammlungsmitglieder geehrt. Da habe ich gar keinen Spielraum, jemandem eine Urkunde vorzuenthalten, weil mir dessen Nase nicht gefällt oder er einer Partei angehört, die mir nicht passt. Für uns als Körperschaft des öffentlichen Rechts gilt strikt das parteipolitische Neutralitätsgebot.

Hat diese Neutralität Grenzen?

Schnabel: Ja. Wenn jemand beispielsweise verurteilt wäre, weil er sich radikal geäußert oder gar rechtsradikale oder linksradikale Handlungen durchgeführt hat, dann wäre eine andere Situation gegeben. Dann würde ich den Fall aber nicht anhand seiner Zugehörigkeit zu einer Partei beurteilen, sondern aufgrund seines persönlichen Handelns. Und davon völlig losgelöst ist die Frage zu beantworten, wie wir mit unterschiedlichen Meinungen in unserer Gesellschaft umgehen wollen. Wie viel halten wir aus und wo ziehen wir die Grenze? Aus persönlicher Erfahrung kann ich sagen, dass ich immer für den Diskurs bin. Ich bin immer für den Meinungsaustausch und gegen Vorurteile. Vor Wahlen beispielsweise veranstalten wir immer Podiumsdiskussionen. Dazu laden wir sehr konsequent nach objektiven Kriterien ein, meistens alle in Fraktionsstatus vertretenen Parteien. Ich halte es für richtig, das gesamte Meinungsspektrum abzubilden. Wir müssen unterschiedliche Meinungen aushalten können. Über viele Jahre, in denen ich das jetzt so handhabe, hat sich gezeigt, dass sich die Unternehmerinnen und Unternehmer am besten ein eigenes Bild machen können, wenn sie die Menschen und ihre Positionen im Original hören. Wir müssen Parteien im Diskurs stellen, sie mit ganz konkreten Fragen konfrontieren, in unserem Fall eben hauptsächlich mit wirtschaftlichen Fragestellungen. Und da kann man schon sehr große Unterschiede zwischen den Vertretern verschiedener Parteien feststellen.

Aktuelle Umfragen, aber vor allem die jüngsten Zahlen der Wahlbeteiligung, zum Beispiel bei der Entscheidung über den Oberbürgermeister von Ludwigshafen, belegen, die Menschen verlieren mehr und mehr das Vertrauen in die Politik. Müssen Unternehmer jetzt mehr Verantwortung übernehmen? Muss die Wirtschaft lauter werden, vielleicht auch politischer?

Schnabel: Absolut. Diesen Aufruf, dass sich Unternehmer doch bitte politisch mehr engagieren sollten, hören wir verstärkt. Gemeint ist damit vor allem ein parteipolitisches Engagement. Das ist aber eine zu hohe Hürde für viele Unternehmerinnen und Unternehmer. Die kommen aus einer anderen Welt. Sie wollen durch ein politisches Amt nicht beschädigt werden. Auch die Art des Diskurses, wie er unter den politischen Parteien stattfindet, schreckt ab. Das ist ein rauer Stil, der den meisten Unternehmern überhaupt nicht liegt. Ihnen geht es um Fakten und die Sache. Den lauten Austausch von bloßen Meinungen hingegen, das mögen Unternehmerinnen und Unternehmer nicht.

Mögen Sie den lautstarken Meinungsaustausch?

Schnabel: Ich persönlich habe auch keine Lust, in dieses Parteigezänk hineingezogen zu werden. Deswegen habe ich den Weg gewählt, anders politisch Einfluss zu nehmen, über die Rolle eines Außenstehenden, als IHK-Präsident.

Wie gut gelingt Ihnen das?

Schnabel: Die Schwierigkeit ist, dass die persönlichen Gespräche mit den Politikern und Regierungsvertretern meist sehr angenehm und konstruktiv sind. Dann denkt man, man sei sich einig und könne das Problem schnell lösen, den Knoten zerschlagen. Aber die Realität ist dann so, dass Politik sich eben nur über Öffentlichkeit bewegt, also nur, wenn es auch öffentlichen Druck gibt. Wir müssen uns als IHK oder generell als Vertreter der Wirtschaft also immer fragen, wie wir es schaffen, nicht nur den direkten Diskurs mit den Parteien, mit den Fraktionen, mit den Regierenden zu führen, sondern unsere Meinung auch so in die Öffentlichkeit zu tragen, dass sie Rückhalt findet.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Schnabel: Ich erlebe das momentan ganz krass beim Thema der Corona-Hilfen. Corona ist für die meisten Menschen vorbei. Das heißt, der normale Bürger hat damit abgeschlossen, es gibt also keine Öffentlichkeit mehr. Jetzt haben wir aber allein in Baden-Württemberg mehr als 5.000 Widersprüche von Unternehmen gegen die Rückzahlungsaufforderungen und rund 1.400 Verfahren vor den Verwaltungsgerichten. Das alles passiert im Schatten der Öffentlichkeit. Für die betroffenen Unternehmen geht es teils um deren Existenz. Die haben damals, während der Corona-Zeit, das Versprechen bekommen, dass ihnen geholfen wird. Jahre später treibt die L-Bank als „Staatsbank für Baden-Württemberg“ die Unternehmer durch die juristischen Instanzen. Gerade hat das Oberverwaltungsgericht in Mannheim in vier von fünf Berufungsverfahren das rechtswidrige Verhalten der L-Bank bei der Rückforderung von Corona-Soforthilfen bestätigt. Eigentlich wäre hier politische Führung der Landesregierung und Rückendeckung durch den Bund gefordert. Warum reagiert die Politik nicht und lässt zu, dass die Unternehmen dadurch in große Not geraten? Weil es zum Thema Corona keine interessierte Öffentlichkeit mehr gibt!

Sie sind als IHK-Präsident frisch wiedergewählt und vor Ihnen liegt eine komplette Amtszeit. Was müsste passieren, damit Sie die kommenden fünf Jahre rückblickend als Erfolg betrachten?

Schnabel: Wir haben eine Situation, in der die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen wirklich in Frage gestellt wird. Der Grund dafür ist, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen einfach nicht mehr stimmen. Ich wünsche mir, dass wir einen kleinen Beitrag dazu leisten können, dass wir auf allen politischen Ebenen, also in Brüssel, in Berlin, im Land, aber auch hier in der Region, diese verlorengegangene Wettbewerbsfähigkeit wiedergewinnen.

Was braucht es dafür?

Schnabel: Ein Verständnis dafür, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Bevölkerung und Wirtschaft in einem Boot sitzen und keine Gegner sind. Dass wir für die gleiche Sache kämpfen müssen, also Leistungsfähigkeit zurückzugewinnen, auch um das soziales Gleichgewicht bewahren zu können. Wir müssen das Ideal der sozialen Marktwirtschaft wiederbeleben.

Sie sind IHK-Präsident, Unternehmer, Familienvater – wie bekommen Sie das alles unter einen Hut?

Schnabel: Ich möchte einen Beitrag dafür leisten, dass sich unsere Gesellschaft weiterentwickelt, unser Wohlstand gesichert wird und unsere Demokratie auch dadurch stabil bleibt. Ich möchte, dass meine Kinder eine gute Zukunft in Frieden haben. Das ist das, was mich motiviert. Wie ich das alles vereinbart bekomme? Das gelingt wirklich nur durch ein extrem straffes Zeitmanagement. Das ist der Schlüssel für vieles. Ich muss einfach jede Minute der Woche durchplanen. Das heißt für mich werktags von 8 bis 23 Uhr. Und am Samstag muss ich „nachsitzen“, um am Schreibtisch in Ruhe arbeiten zu können. Der Sonntag ist dann für die Familie da. Und wenn man das diszipliniert „durchzieht“, bekommt man auch diese vielen Rollen irgendwie ganz gut unter einen Hut.

IHK-Präsident Manfred Schnabel im Gespräch mit MM-Chefredakteurin Miriam Scharlibbe. © Christoph Blüthner

Apropos Kinder: Die Landtagswahl im kommenden März wird die erste sein, bei der auch 16-Jährige wählen dürfen. Was wünschen Sie den jüngeren Generationen in diesem Land?

Schnabel: Ich bin ein großer Fan der Nachhaltigkeit. Übrigens teile ich das mit sehr vielen mittelständischen Unternehmerinnen und Unternehmern. Die Frage der Nachhaltigkeit ist in den letzten Jahren sehr stark verengt worden auf die Frage der ökologischen Nachhaltigkeit, die ich persönlich für extrem wichtig halte. Aber zur Nachhaltigkeit gehört eben auch die ökonomische Tragfähigkeit. Und so gesehen sind wir in vielen Feldern eben nicht nachhaltig unterwegs. Wir haben über die Rentenversicherung gesprochen, wir haben über die Frage unserer Wettbewerbsfähigkeit gesprochen und viele andere Punkte, bei denen wir eben nicht die nächste Generation im Blick haben. Unsere Gesellschaft, unsere Welt nachhaltig und friedlich zu gestalten, das ist das, was mich leitet. Und ich wünsche mir, dass sich die junge Generation tatsächlich stärker einbringt.

Wie meinen Sie das?

Schnabel: Die jungen Menschen müssen lernen, dass sie Teil der Gesellschaft sind und sie ihr eigenes Schicksal mitgestalten müssen. Es gibt aber einen Teil der Jugendlichen, der das nicht macht. Daher mein Appell an die Jugend: Bringt euch in die politischen Diskussionen ein und kämpft für eure Interessen!

Haben Sie nicht das Gefühl, dass die Jugend genau das macht?

Schnabel: Ich habe große Schwierigkeiten zu verstehen, wie ruhig die junge Generation bleibt im Angesicht all der politischen Entscheidungen, die jetzt über ihre Zukunft bestimmen. Aber sich aufregen, sich einbringen, das müssen nicht nur junge Leute. Ich glaube alle, die Älteren und die Jüngeren sind aufgerufen, an die kommenden Generationen zu denken, das Thema Nachhaltigkeit ernst zu nehmen und sich einzumischen und nicht anderen zu überlassen, wie ihre Zukunft gestaltet wird.

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