Interview

DGB Baden-Württemberg-Bezirkschef: „Streiken ist unser gutes Recht“

Kai Burmeister ist Vorsitzender des DGB-Bezirks Baden-Württemberg. Warum er den breit angelegten Arbeitskampf am Montag für gerechtfertigt hält, mit Sorge auf die Industrie schaut und verkaufsoffene Sonntage ablehnt

Von 
Alexander Jungert
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Kai Burmeister sieht bei den Tarifverhandlungen nun die Arbeitgeber in der Pflicht. © Thomas Tröster

Herr Burmeister, mit einem großangelegten Warnstreik legen EVG und Verdi am kommenden Montag weite Teile des öffentlichen Verkehrs lahm. Betroffen sind Busse, Bahnen, Schiffe, Flughäfen. Ist das eher ein Generalstreik als ein Warnstreik?

Kai Burmeister: Das sind gleichzeitige Warnstreiks, die die Entschlossenheit der Beschäftigten unterstreichen. EVG und Verdi machen klar: Jetzt ist die Zeit für höhere Löhne. Angesichts der anhaltend hohen Preise ist das mehr als gerecht und wirtschaftlich notwendig. Das Streikrecht wird von den DGB-Gewerkschaften sehr verantwortlich wahrgenommen.

Koordinierte Streiks aus mehreren Tarifrunden sind nicht die Regel. Ist das die neue Strategie?

Burmeister: Dass DGB-Gewerkschaften tariflich als gemeinsamer Zug unterwegs sind, ist nicht neu. Wir streiken im internationalen Vergleich eher wenig. Streiken ist unser gutes Recht.

Glauben Sie, die Leute haben Verständnis für Streiks in einem solchen Ausmaß?

Burmeister: Ja, das glaube ich. Der ARD-Deutschland-Trend sagt, dass die Mehrheit der Menschen hierzulande hinter uns steht. Als Familienvater weiß ich aus der Schule, dass viele Eltern denken: Jetzt ist Zeit für die Aufwertung vieler Berufe - in der Bildung, in der Pflege, im öffentlichen Nahverkehr. Diese Einkommen leiden alle besonders stark unter der hohen Inflation.

Mit den Streiks treffen Sie aber viele Menschen, die Sie eigentlich vertreten sollten.

Burmeister: Das ist richtig. Bestimmt ist es ärgerlich für den ein oder anderen, der sich fragt, wie er von A nach B kommen soll. Aber Adressat sind die Arbeitgeber - sie müssen jetzt ein verhandlungsfähiges Angebot vorlegen, das den Beschäftigten Respekt zollt. Ich will es anders sagen: Solche Streikaktionen sind eine Form gelebter Demokratie. Dazu gehört es, dass wir über Löhne und Arbeitsbedingungen frei verhandeln. Das sind Feiertage des demokratischen Engagements.

Wie eskalationsbereit sind die Gewerkschaften?

Burmeister: Die Gewerkschaften sind immer zu Kompromissen bereit, aber auch immer zum Konflikt in der Lage. In Mannheim, Heidelberg oder in Stuttgart erlebe ich sehr entschlossene Beschäftigte, die sagen: Lasst uns nicht mit den hohen Preisen alleine. Sie wollen nicht nur als systemrelevant bezeichnet und beklatscht werden, sondern es auch in ihrem Portemonnaie in Form von tabellenwirksamen Entgelterhöhungen spüren.

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Werden die Menschen noch Verständnis haben, wenn der Arbeitskampf länger dauert?

Burmeister: Wir konzentrieren uns zunächst auf die anstehenden Verhandlungen. Dann entscheiden die Gewerkschaften über die weiteren Schritte. Sie spiegeln, was die Beschäftigten erwarten, und sind selbstverständlich bereit, eine Schippe draufzulegen. Nun sind die Arbeitgeber am Zug.

Die meisten Menschen werden die kommenden Tage aufs Auto umsteigen, weil keine Busse und Bahnen fahren. Wie passt das mit der Verkehrswende zusammen, für die auch der DGB stehen will?

Burmeister: Gewerkschaften treten ein für die Verkehrswende, die den öffentlichen Nahverkehr substanziell stärkt. Sehen Sie: Viele Fahrer gehen in Rente, sie müssen ersetzt werden. Allerdings ist das schwer, denn es gibt viel zu wenig Leute. Zudem sind die Arbeitszeiten und die Bezahlung nicht attraktiv. Zusammen mit Fridays for Future hat Verdi deutlich gemacht, dass es ÖPNV-Ausbau und Verkehrswende nicht zum Nulltarif geben wird - sondern dieser Bereich substanziell aufgewertet werden muss. Das ist auch Aufgabe der Politik! Die Verkehrswende wird uns die nächsten Jahre beschäftigten und nicht jetzt durch einen großen Streiktag aufgehalten.

Viele Industrieunternehmen der Region bauen Stellen ab: Evobus, Bilfinger… befürchten Sie eine Deindustrialisierung?

Burmeister: Tatsächlich beobachten wir die Entwicklung mit Sorge. Unternehmen reden oft von Transformation, meinen aber die Verlagerung von Jobs in Niedriglohn-Länder - und das alles nur, um vollkommen überzogene Renditevorstellungen von Aktionären zu befriedigen. Das birgt sozialen Sprengstoff und erschwert die Transformation, die ohnehin eine Mammutaufgabe für die gesamte Gesellschaft ist. Unsere Forderung ist eine Perspektive für jeden industriellen Standort bis 2030. Das beinhaltet auch, dass zum großen industriepolitischen Programm der USA - dem Inflation Reduction Act - eine europäische Antwort benötigt wird. Stichwörter sind wettbewerbsfähige Strompreise und Investitionen, vor allem in die Energiewende. Baden-Württemberg muss Industrieland bleiben.

Gewerkschaften wird oft nachgesagt, sie seien Bremser bei neuen technologischen Entwicklungen …

Burmeister: Nein. Nehmen Sie das Beispiel Elektromobilität: Gewerkschaftsvertreter in Aufsichtsräten haben sich oft für eine eigene Produktion von Batteriezellen hierzulande eingesetzt. Viele Unternehmen haben jedoch gesagt: Die Zellen kaufen wir zu, die Reifen stellen wir ja auch nicht selbst her. Mittlerweile hat zum Glück ein Umdenken stattgefunden. Aber Politik und Unternehmen haben zu lange geschlafen, und Deutschland ist in der Folge zu sehr von Asien abhängig geworden.

Der Gewerkschafter

Kai Burmeister wurde am 3. November 1976 in Lübeck (Schleswig-Holstein) geboren. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter.

Seit Februar 2022 leitet er den Bezirk Baden-Württemberg des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).

Karriere hat Burmeister bei der IG Metall gemacht. Ein Arbeitsschwerpunkt unter anderem: die Transformation in der Autoindustrie.

Der DGB ist die größte Dachorganisation von Einzelgewerkschaften in Deutschland.

Kommen wir zum Handel: Regionsgeschäftsführer Lars-Christian Treusch vom DGB Nordbaden hat vor Kurzem die Entscheidung der Stadt Mannheim für drei verkaufsoffene Sonntag in diesem Jahr kritisiert. Ist der „Schutz des arbeitsfreien Sonntags“ noch zeitgemäß?

Burmeister: Wir sind gut beraten, an einem Tag der Woche inne zu halten. . .

… ein Privileg, das nicht alle haben …

Burmeister: Viele Pflegekräfte arbeiten sonntags, und natürlich möchte ich auch, dass die Feuerwehr kommt, wenn es brennt. Aber ein Tag, an dem das Land in Summe innehält, halte ich gesellschaftlich für sinnvoll. Gewerkschaften und Kirchen sind hier einer Meinung. Der Sonntag ist für Familien da.

Das klingt nach Weltanschauung. Wie ist es denn, wenn Sie in die Betriebe reinhören? Weigern sich wirklich alle Beschäftigten strikt gegen Sonntagsarbeit?

Burmeister: Jeder kann seine freien Tage unter der Woche haben - das ist für Schichtarbeiter und andere Berufsgruppen oft längst Realität. Aber ich bin, wie gesagt, davon überzeugt, dass uns als Gesellschaft ohne freien Sonntag ein Stück des Innehaltens verlorengeht. Die Menschen wollen nicht rund um die Uhr sieben Tage die Woche arbeiten.

Davon reden wir ja gar nicht. Es geht um drei Sonntage im Jahr.

Burmeister: Noch einmal: Ich kann keinen Vorteil an verkaufsoffenen Sonntagen erkennen. Der Handel steht vor fundamentalen Herausforderungen, keine Frage. Aber ausgeweitete Öffnungszeiten sind eine Scheinlösung.

Immer mehr Unternehmen fliehen aus der Tarifbindung. Wie schätzen sie das ein?

Burmeister: Jeder zweite Beschäftigte in Baden-Württemberg ist von Tarifverträgen geschützt, früher war diese Zahl deutlich höher. Die EU-Kommission fordert von den Mitgliedsländern 80 Prozent Tarifbindung. Gewerkschaften, Unternehmen und Politik sind also dazu aufgefordert, Vorschläge zu machen, wie die Tarifbindung gesteigert werden kann.

Und wie kann sie gesteigert werden?

Burmeister: Lassen Sie mich zunächst sagen: Tarifverträge sind heute sehr flexibel. Es gibt etwa in der Metallindustrie passgenaue Lösungen für wirtschaftliche Notlagen - das Pforzheimer Abkommen. Es beinhaltet Öffnungsklauseln, wenn es einem Unternehmen mal nicht so gut geht. Für eine gesamte Branche Tarifverträge zu haben und nicht für jedes einzelne Unternehmen, ist also der richtige Bezugspunkt. Arbeitgeber sollten aufhören, Tarifverträge schlechtzureden und Verbandsmitgliedschaften ohne Tarifbindung anzubieten. Das muss verboten werden. Von Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Bundeskanzler Olaf Scholz erwarte ich darüber hinaus, dass sie sich dafür einsetzen, dass alle öffentlichen Aufträge nur an Unternehmen vergeben werden, die sich zu Tarifverträgen bekennen. Weil Lohndumping nicht mit Steuergeld gefördert werden darf.

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Vermehrt ist von Betriebsrats-Mobbing zu hören, auch vor den Arbeitsgerichten werden Fälle verhandelt. Wie groß ist das Problem?

Burmeister: Es ist gewaltig. Viele Menschen, die im Betrieb für ihre Rechte eintreten und einen Betriebsrat gründen wollen, werden entsprechend unter Druck gesetzt. Entweder hemdsärmelig vom Arbeitgeber, der erklärt: Das hier ist meine Bude, ihr habt hier nichts zu sagen. Oder auch dahingehend, dass spezialisierte Anwaltskanzleien Menschen systematisch fertigmachen wollen. So etwas geht in unserem Land nicht und muss strafrechtlich verfolgt werden. Deswegen fordert der DGB eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft in Baden-Württemberg, die sich genau darauf konzentriert. Arbeitgeber, die Betriebsratsmitglieder mobben, sind nicht in der Lage, ein Unternehmen anständig zu führen.

Die Gewerkschaften haben die vergangenen 20 Jahre massiv an Mitgliedern verloren… warum haben Sie die Menschen nicht erreicht?

Burmeister: Es gibt immer demografische Effekte. Bei Verdi, IG Metall, EVG und den anderen DGB-Gewerkschaften in Baden-Württemberg ist seit Januar eine fünfstellige Zahl an Menschen eingetreten. Aber es sind noch nicht genug, das gehört zur Wahrheit.

Wie steuern Sie gegen?

Burmeister: Gewerkschaften stehen unter gewaltigem Modernisierungsdruck, ausgelöst durch die immer unterschiedlicheren Arbeitsrealitäten, die Bedürfnisse der Generation Z (junge Menschen, die zwischen den Jahren 1995 und 2010 geboren sind, Anm. d. Redaktion), neue Formen des Arbeitens im Homeoffice. Auch der hoch qualifizierte Bereich ist für uns interessant. . .

. . . wie zum Beispiel der Walldorfer Softwarekonzern SAP. Dort hat die IG-Metall-Liste bei der Betriebswahl im vergangenen Jahr die meisten Stimmen geholt.

Burmeister: Ja - das zeigt doch, dass die Beschäftigen dort ihre Interessenvertreter gefunden haben. Das ist ein Top-Signal, und das hätte vor ein paar Jahren niemand für möglich gehalten.

Redaktion berichtet aus der regionalen Wirtschaft

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