Gesellschaft

Trend zur Abstinenz: Junge Menschen verzichten zunehmend auf Alkohol

Während Alkohol in der älteren Generation oft ganz selbstverständlich ist, geht das regelmäßige Trinken bei jungen Menschen deutlich zurück. Experten erklären die Trendwende

Von 
Hannah Schmitz
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Immer mehr Jugendliche trinken überhaupt keinen Alkohol. © Monika Skolimowska/dpa

Köln/Zittau. Wenn Vlada Mättig sich mit Freunden in einer Bar trifft, trinkt sie keinen Schluck Alkohol. Die 38-Jährige ist seit 2017 „nüchtern“, wie sie sagt. „Man muss dabei auf nichts verzichten. Das Leben ohne Alkohol ist befreiend und schön“, sagt Mättig, die für ein „rauschloses Leben“ wirbt und als Yogalehrerin und Mentorin im sächsischen Zittau arbeitet. Mättig kennt allerdings auch die Kehrseite: Jahrelang war sie alkoholabhängig, manchmal trank sie schon morgens ihr erstes Glas Wein.

Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums liegt bei neun Millionen Deutschen zwischen 18 und 64 Jahren ein problematischer Alkoholkonsum vor. Gleichzeitig geht das regelmäßige Trinken unter jungen Menschen seit Jahrzehnten zurück. Aktuell scheint es sogar mehr denn je in Mode zu sein, an einem sogenannten Mocktail zu schlürfen. In München hat vor Kurzem der erste alkoholfreie Biergarten der Stadt aufgemacht; in Berlin gibt es seit 2021 einen Späti, der nur Nullprozentiges verkauft. Und in den sozialen Medien teilen Nutzer unter den Hashtags „nüchtern“, „alkoholfrei“ oder „sober“ ihre Erfahrungen mit Abstinenz.

Forscher: Kontrolle im Alltag behalten heute wichtig

„Der Anteil derer, die gar nicht mehr konsumieren, wächst“, sagt der Jugendforscher Klaus Hurrelmann. „Vor 30 Jahren war es ganz normal, dass Handwerker einen Kasten Bier mit zur Baustelle gebracht haben“, erinnert er. „Heute möchte man im normalen Alltag die Kontrolle behalten.“ Diesen Wunsch nach Kontrolle und „Konzentrationsfähigkeit“ bringt der Sozialwissenschaftler wiederum in Zusammenhang mit der zunehmenden Digitalisierung.

Für junge Menschen heute sei es aufgrund der vielen Ablenkungen – allein ein Smartphone bietet genügend – schwieriger, Leistung zu erbringen. „Sie stehen unter hoher Anspannung“, erklärt Hurrelmann und verweist auf Jugendstudien, an denen er mitgearbeitet hat. „Vor allem seit Corona erleben junge Menschen einen deutlichen Anstieg von Belastungen.“ Es sei umso bemerkenswerter, dass diese Jugend dem nicht mit Betäubungsmitteln, sondern „nüchtern“ entgegentrete. Im Hintergrund stehe ein gesundheitsbewusster Lebensstil, der durch soziale Medien unterstützt werde.

Vlada Mättig war über ein Jahr nicht mehr bei Instagram, als sie sich vor Kurzem wieder einloggte – und überrascht war. „Es war krass zu sehen, wie viele Leute auf einmal zu ihrer Nüchternheit stehen und wie viele Produkte es inzwischen gibt“, sagt sie. Mättig hat das Gefühl, dass gesellschaftlich ein Umdenken stattfindet. Dennoch hätten viele ihrer Klientinnen, die sie in Einzelmentorings begleitet, noch immer Angst davor, dass sie nicht mehr dazugehören, wenn sie keinen Alkohol mehr trinken. Mättig selbst ist offen mit ihrer früheren Abhängigkeit umgegangen und will zeigen, dass es ein „cooles und leichtes Leben“ danach gibt. Sie vermisse weder die Substanz noch die Wirkung. Durch ihre Sucht habe auch bei ihren Freunden ein Umdenken stattgefunden.

Die Getränkeindustrie reagiert längst auf die steigende Nachfrage nach Alkoholfreiem. Die Brauer in Deutschland bringen etwa fast wöchentlich ein neues alkoholfreies Bier auf den Markt. Holger Eichele, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Brauer-Bundes (DBB), schwärmt von einer „einzigartigen Erfolgsstory“. Der DBB schätzt, dass alkoholfreie Biere bald zehn Prozent des deutschen Biermarktes ausmachen werden – aktuell sind es acht Prozent. Damit würden auch ganz neue Konsumentenkreise erreicht.

Auch Winzer haben inzwischen die Nische für sich entdeckt. Zwar liegt der Marktanteil der alkoholfreien Weine nach Branchenschätzungen nur bei rund einem Prozent – aber immer mehr Menschen greifen zur Alternative. Nach Angaben des Deutschen Weininstituts ist der Absatz 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 27 Prozent gewachsen.

Im Kölner „Little Link“ ist es um 17 Uhr noch ruhig; die Cocktailbar hat an einem Donnerstag gerade erst ihre Türen geöffnet. Thommy Matzke ist dort seit mehreren Jahren Barkeeper und beobachtet, dass „immer mehr“, vor allem Jüngere, alkoholfreie Cocktails bestellen. Das „Little Link“ hat vier davon auf seiner Karte, insgesamt bietet die Bar mehr als 50 an. „Wir verdienen unser Geld natürlich mit Alkohol“, sagt Matzke. Er sei als Geschmacksträger unverzichtbar und bringe Aromen besser zur Geltung. Deswegen setzt die Bar eher auf Cocktails mit verringertem Alkoholgehalt.

Corona hat Bewusstsein für Genuss verändert

Matzke ist überzeugt, dass während der Corona-Pandemie das Bewusstsein für Genuss ein anderes geworden sei. Den Trend zu alkoholfreien Drinks sieht der 40-Jährige vor allem über die sozialen Medien gesteuert. Seit der Pandemie habe sich das Ausgehen zudem teilweise in den späten Nachmittag verlagert.

Laut Silke Biester vom Caritasverband für das Erzbistum Berlin ist Alkoholtrinken gesellschaftlich aber weiterhin „total akzeptiert, ja, es wird sogar unterstützt“. „Wir können in unseren Beratungen nicht feststellen, dass es unter jungen Menschen weniger massiven Alkoholkonsum gibt“, erklärt die Fachreferentin für Suchthilfe.

Zwar gebe es Trends wie den „dry january“ oder „sober october“ – Verzichtsmonate, deren Teilnehmer keinen Alkohol trinken. „Das Ziel müsste aber sein, insgesamt wenig zu trinken“, sagt Biester. Ihr zufolge „explodieren“ seit einigen Jahren zudem neue Online-Süchte: Gaming, Shopping, Pornos. kna

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