Halle. Ein Zischen, ein paar schnelle Bewegungen - innerhalb kurzer Zeit hat ein Graffitisprayer eine weiße Fassade in eine gigantische Leinwand verwandelt. Anwohner sehen die Schriftzüge und bunten Bilder oft als Vandalismus. Dass es auch anders geht, zeigt Halle. In der Stadt an der Saale helfen Streetworker jungen Leuten bei dem, was sie ohnehin tun würden: dem Sprayen. Von Schmierereien spricht aber keiner. Denn die Sozialarbeiter haben strikte Regeln.
Nach der Wende habe sich in der Stadt in Sachsen-Anhalt eine starke Graffitiszene entwickelt, erklärt Streetworkerin Kathrin Ströfer. Rivalisierende Crews seien vor allem durch Problemviertel wie Halle-Neustadt und die Silberhöhe gezogen, hätten gegenseitig ihre Schriftzüge übersprüht und Konflikte mit den Fäusten geklärt. Zu dieser Zeit fingen die ersten Streetworker in Halle an. Seit zehn Jahren nutzen sie die Graffiti nun für ihre Sozialarbeit.
"Durch Graffiti-Workshops brachte man die Gruppen damals zusammen", so Streetworkerin Ströfer. Die Crews sprühten gemeinsam - und legal - lange Tunnelwände in der Nähe des Bahnhofs an. Sie lernten voneinander. Der Respekt stieg. Heute gelte das ungeschriebene Gesetz: "Ein gutes Graffiti darf nicht übersprüht werden", sagt Ströfer.
Das Telefon von Ströfer und ihrer Kollegin Andrea Bohne im Jugendamt steht nicht still. An einem Kindergarten gebe es eine helle Außenwand. "Wir haben rund 35 Sprayer, die Auftragsarbeiten machen - vom Hausmeister bis zum Designstudenten", so Ströfer. Unter den Sprayern habe sich herumgesprochen, dass die Streetworker nicht nur Freiflächen organisieren, wo sie sich legal und ohne Zeitdruck ausprobieren können, sondern auch Aufträge.
Wer geübt ist, bekommt den Zuschlag. Ein Kleingartenbesitzer habe kürzlich sein Gartentor verschönern wollen, sagt Ströfer. "Das bringt nicht nur Prestige, sondern auch Kohle", erklärt Ströfer. Neulich habe ein Sprayer 200 Euro für einen Garagenkomplex bekommen.
Vier riesige Probierflächen gibt es - darunter die den Angaben zufolge längste in Ostdeutschland. Dosen, Kappen und Mundschutz müssten die Jugendlichen selbst zahlen oder über Sponsoren finanzieren, bei deren Suche die Streetworker genauso wie bei den Flächen helfen. Auch in anderen Städten wie Berlin, Bochum und Lünen gibt es ähnliche Projekte.
Außerhalb der Streetwork-Arbeit kommen illegale Graffiti die Sprüher teuer zu stehen. Hohe Geldstrafen und bis zu drei Jahre Haft wegen Sachbeschädigung können laut Bundesjustizministerium drohen. Nach der Kriminalstatistik sind 2013 rund 98 000 Graffiti-Straftaten in Deutschland registriert worden. dpa
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