New York. Es ist ein Foto, das schockiert. Es zeigt die letzten Sekunden vor dem Tod des 58-jährigen Ki Suk Han, der in New York auf den Gleisen stehend in Richtung der herannahenden Subway-Linie "Q" blickt. Sein Arm ist auf die Bahnsteigkante gestützt, doch er hat weder Zeit noch Kraft, sich in Sicherheit zu bringen.
Nicht mehr abgebildet ist, was dann geschieht: Nur Augenblicke später erfasst ihn der Wagon. Jede ärztliche Hilfe kommt zu spät.
Millionen US-Bürger haben jüngst diese Aufnahme gesehen, die von der "New York Post" auf der Titelseite gedruckt und in die Online-Ausgabe gestellt wurde. "Dieser Mann ist dabei, zu sterben", lautet ein Teil der Schlagzeile.
Die Aufnahme entstand, weil ein freier Mitarbeiter des Blattes - ein Profi-Fotograf - zufällig anwesend war. Das Opfer, ein Vater aus dem Stadtteil Queens, hatte sich von einem offenbar mental gestörten 30-Jährigen, der zuvor schon Streit mit anderen Fahrgästen gesucht hatte, in eine Auseinandersetzung verwickeln lassen. Als der U-Bahn-Zug einfuhr, stieß der Jüngere das überraschte Opfer auf die Gleise.
Der mutmaßliche Täter Nieem D. rannte davon, wurde aber dank Zeugenbeschreibungen und einer Video-Aufnahme erkannt und festgenommen. Nun werden in New York jede Menge Fragen gestellt. Ist es angemessen, den letzten Augenblick vor dem Sterben einer Person zu zeigen, die sich zu retten versucht?
Eine weitere Frage lautet auch: Hätte der Fotograf nicht versuchen müssen, dem Mann zu helfen? Der Reporter verteidigt sich: Er sei auf den Wagon zugerannt und hätte durch mehrfaches Betätigen seines Blitzlichts versucht, den Zugführer zu alarmieren. Der hatte eine Notbremsung eingeleitet, doch die Distanz war zu kurz. "Der Zug hat den Mann überrollt, bevor ich ihn erreichen konnte", betonte der Fotograf, "und niemand, der näher stand, versuchte ihn hochzuziehen."
Vermeidung von Kontakt
Ein Dutzend Menschen, die sich ebenfalls auf dem Bahnstieg befanden, waren - nachdem Han auf die Gleise geschubst worden war - zunächst vom Ort des Geschehens fortgerannt, statt Hilfe zu leisten.
Es war eine vielleicht typische Reaktion von New Yorkern, deren Verhalten während einer U-Bahn-Fahrt gewöhnlich auf Kontaktvermeidung ausgerichtet und deren zwischenmenschliche Interaktion auf ein Minimum reduziert ist. Erst als eine Ärztin mit Wiederbelebung begann, kamen, so berichtet der Fotograf, die Menschen zurück. Und schossen mit ihren Handys Videos und Fotos vom Leblosen.
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