Mannheim/Viernheim. "Er war eigentlich ein ganz lieber Kerl!" Gleich mehrere Nachbarn sagen diesen Satz über Sabino M. und sind dann doch fassungslos und schockiert über das Schreckliche, was der 19-Jährige am vergangenen Donnerstag getan hat. Da hatte er im Kinocenter Kinopolis im südhessischen Viernheim, bewaffnet und maskiert, Geiseln genommen und bedroht. Er wurde von einem Spezialeinsatzkommando der Polizei erschossen. Über das Motiv rätseln seither nicht nur die Ermittler, sondern auch seine früheren Nachbarn im Mannheimer Stadtteil Sandhofen. Aber dass er Schreckschuss-Waffen hatte, das wusste man hier.
Die Mondgasse ist eine kleine Straße in diesem Stadtteil im Mannheimer Norden. Auf einer Seite sehr schmucke Ein- und Zweifamilienhäuser mit schönen, akkurat gepflegten Vorgärten, gegenüber Garagen. Viel Grün, große Grundstücke. Man sieht einige Deutschland-Fahnen. Ein Haus fällt auf. Es ist nicht so gepflegt wie die anderen, die Rollläden sind heruntergelassen, in der Einfahrt wuchert das Gras, im Garten das Gebüsch, das Unkraut.
Schon immer verwirrt
Der zweigeschossige Bau gehörte früher einem im Ort sehr angesehenen Geschäftsmann, bis 1992 Inhaber eines Handwerksbetriebs. Es war der Opa von Sabino. Er hat das Haus nach seinem Tod vor einigen Jahren seinem Enkel vermacht. Damit der später mal versorgt ist.
Denn Sabino hatte es nicht leicht. Er sei, sagen mehrere Sandhofener, zu früh geboren worden. Einige schildern ihn als "immer etwas langsam, arg schmal und still", andere nennen ihn "geistig zurückgeblieben", "ein bisschen verwirrt" oder gar "sehr arg verwirrt" - ein Wort, das auch wieder fällt, wenn man die Schilderungen von Zeugen der Tat im Kino hört. Jedenfalls sei er nicht voll geschäftsfähig gewesen, habe einen Betreuer gehabt, trotz Volljährigkeit.
Als Kind - der Vater Italiener, die Mutter Deutsche - sei er oft kränklich gewesen, stets umsorgt und behütet von der Mutter. Als die aber vor einigen Jahren an Krebs starb, sei er noch stiller, noch zurückgezogener geworden als ohnehin schon. Mit dem Vater gab es häufiger Krach, der vor Monaten plötzlich eskaliert sei. Da habe der Sohn den Vater gewaltsam aus dem Haus geworfen, die Polizei sei deshalb sogar angerückt. Dabei sei der Vater, der nun im Haus seiner neuen Partnerin wohnt, doch nach einem Schlaganfall sogar gehbehindert. Aber kann das der Vorbote für so eine Tat wie die in Viernheim sein? Nachbarn und Bekannte rätseln, finden keine Erklärung.
Umzug nach Niedersachsen
Seither habe der 19-Jährige allein in dem Haus gewohnt. Zeitweise hätten nachts Punker bei ihm übernachtet, seien tagsüber aber wieder gegangen. "Das ging alles friedlich und gesittet zu", heißt es aus der Nachbarschaft. Seit einem halben Jahr hatte Sabino einen festen Freund. Nur etwas älter, aus Niedersachsen stammend.
Bei ihm, mit ihm wollte er ein neues Leben beginnen. Offiziell war er schon zu ihm nach Sassenburg bei Gifhorn gezogen, weshalb die Staatsanwaltschaft ihn als "gebürtig aus Mannheim, wohnhaft in Norddeutschland" beschrieb. Aber noch spielte sich das Leben der beiden in Mannheim ab, denn erst wollten sie das Haus vom Opa verkaufen.
Hass und Wut
Für die Nachbarn gab es daher so eine Art Flohmarkt, ihnen bot Sabino Einrichtungsgegenstände an. Dabei zeigte er auch Attrappen von Handgranaten, mehrere Pistolen. Die brauche er, um sich zu verteidigen, weil er doch so schmächtig sei, habe er erklärt. Doch sie seien nicht echt, nicht gefährlich, nur Schreckschusswaffen. Besorgte Anwohner alarmierten dennoch die Polizei. Die kam auch, habe alles für in Ordnung befunden, sagen die Nachbarn. Aber ob jemand, der nicht voll geschäftsfähig ist, einen Kleinen Waffenschein bekommen darf? Diese Frage müssen die Behörden klären.
Als Beruf gab Sabino M. offiziell an, "selbstständig" zu sein. Tatsächlich lebte er wohl vom Erbe, machte oft Computerspiele. Offenbar war er Fan von Rocket Raccoon, einer computeranimierten Figur im Science-Fiction-Film "Guardians of the Galaxy" (2014). Deren Bild dient ihm in Facebook als Profilfoto. Anderen Fotos zufolge sympathisierte er wie sein Freund mit der Furry-Bewegung - Menschen, die sich gerne als Fabeltiere verkleiden. Nachbarn haben ihn aber nie verkleidet gesehen.
Auch wenn er, zumindest laut Facebook-Profil, zuletzt glücklich verliebt wirkte, schien es andere Phasen gegeben zu haben. Da ist von Wut, Schmerz, Hilflosigkeit die Rede. "Der ganze Hass und die Wut haben mich auch verändert sie machten aus mir irgendein kleines Monster!!!", schreibt er im April 2015.
Was am vergangenen Donnerstag passierte, als er nach Viernheim fuhr und Geiseln nahm - keiner weiß es bisher. Seinem Freund sagte er nur, dass er ins Kinopolis gehe. Dann fuhr er los. Und plötzlich stand in Sandhofen die Polizei vor der Tür, durchsuchte das Haus. "Vielleicht wollte er nur mal stark sein, vielleicht wollte er mal Aufmerksamkeit", vermutet ein Nachbar, "und dann ist es schiefgegangen". Gründe für einen sogenannten provozierten Suizid, bei dem jemand bewusst Schüsse der Polizei auf sich lenkt, habe er jedenfalls zuletzt keine gehabt - keine erkennbaren zumindest.
Der Tatablauf
- Am Donnerstag, 23. Juni, gegen 14.30 Uhr, hatte ein 19-jähriger Mann das Viernheimer Kinopolis am Rhein- Neckar-Zentrum betreten.
- Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Darmstadt setzt er sich dort eine Maske auf. Er nahm dann vier Angestellte und 14 Besucher, darunter auch Kinder, als Geiseln und bedrohte sie. Zudem soll er mehrere Schüsse abgegeben haben
- Dabei war er nach Angaben der Staatsanwaltschaft mit einer Langwaffe (Gewehr) und einer Pistole bewaffnet - wie sich später herausstellte, alles Schreckschusswaffen. Auch die Stabhandgranaten waren nur Attrappen - was man aber nicht erkennen kann.
- Beamte eines Spezialeinsatzkommandos stürmten das Kino und erschossen den Täter, als er sie und Geiseln bedrohte. pwr
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