Frankfurt. Eigentlich ist es schon zu spät. Herbststürme machen die Atlantiküberquerung zu einem Wagnis. Christopher Jones, Kapitän des umgebauten Weinfrachters Mayflower, lässt im englischen Plymouth dennoch Segel setzen. Es ist der 6. September 1620 nach julianischem Kalender, der heute gültige gregorianische Kalender zeigt für diesen Tag den 16. September an. Das Ziel: Nordamerika.
An Bord sind 102 Passagiere: Auswanderer. Rund die Hälfte gehört der religiösen Minderheit der Puritaner an. Sie nennen sich selbst „saints“, „Heilige“. Die anderen sind Angehörige der anglikanischen Kirche. Von den „saints“ werden sie „strangers“ (Fremde) genannt. Die „saints“ sind Glaubensflüchtlinge. Puritaner zu sein ist im England dieser Zeit gefährlich. Wer sich nicht konform mit der anglikanischen Staatskirche zeigt, wird verfolgt.
Nach wochenlanger Fahrt bricht der Morgen des 9. November 1620 an – da sichten die Menschen auf der Mayflower Land. Aber die sandige Halbinsel, das heutige Cape Cod in Massachusetts, ist gar nicht ihr Ziel. Sie wollen nach Virginia im Südosten. Die Stürme haben das Schiff jedoch nach Norden getrieben. Die Nahrungsknappheit zwingt Kapitän Jones dazu, seine Passagiere am Cape Cod an Land zu setzen.
Das bringt die „strangers“ auf die Palme. Sie fürchten, an der Küste Neu-Englands unter die Fuchtel der Puritaner zu geraten. Also setzen die Auswanderer gemeinsam einen Vertrag auf: den „Mayflower Compact“. Er soll allen in der neuen Kolonie gleiche Rechte garantieren.
„Das war etwas völlig Neues“, sagt der Kölner Historiker Norbert Finzsch: der Gedanke, dass alle Männer – nur Männer – gleichberechtigt sind. „Hier schien zum ersten Mal eine demokratische Verfassung durch“, sagt er. Noch einen weiteren Stempel hätten die Puritaner den späteren USA aufgedrückt: Religionsfreiheit.
Brutale, gewaltsame Konflikte
Im Winter stirbt rund die Hälfte der Kolonisten an Hunger, Krankheiten und Kälte. Der Rest erkennt, dass der sandige Boden Cape Cods sie nicht ernähren kann, und zieht auf die andere Seite der Bucht. Doch die Puritaner verstehen wenig von Landwirtschaft. Hier helfen die Nachbarn. Wampanoag-Ureinwohner teilen ihr Essen mit ihnen, zeigen, wie sie Mais, Kürbis und Bohnen anbauen. Im Herbst 1621 sollen Indianer und Kolonisten gemeinsam Erntedankfest gefeiert haben.
Uneigennützig ist die Hilfe nicht: Schon vor Ankunft der Siedler waren Epidemien unter den Ureinwohnern ausgebrochen. Viele Wampanoag sind gestorben. Sie hofften zudem auf militärische Hilfe gegen indianischen Feinde. Aber es kommt anders. 1625 löst die Verfolgung in England eine Auswandererwelle unter Puritanern aus. Auch Emigranten anderen Glaubens kommen in großer Zahl. Brutale, gewaltsame Konflikte brechen aus, Ende des Jahrhunderts leben fast keine Ureinwohner mehr in Neu-England.
Thanksgiving ist heute ein zentrales Fest in den USA. Historiker Finzsch sieht darin jedoch einen Mythos, der der Schuldabwehr diene. Er solle verdecken, dass die „saints“ mit am rigorosesten gegen die Ureinwohner vorgegangen sind. epd
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