Berlin. Mehrmals schaut sich der kleine Junge irritiert um. Er läuft an der Hand eines großen bärtigen Mannes auf die Kamera zu. In der anderen Hand hält der Mann ein Stofftier, vielleicht ein Teddybär. Diese Aufnahmen - neun Sekunden auf einem Überwachungsvideo - sind das bisher letzte Lebenszeichen des vierjährigen Mohamed in Berlin.
Der Flüchtlingsjunge wird seit dem 1. Oktober vermisst. Er verschwand dort, wo die in der Hauptstadt ankommenden Flüchtlinge registriert werden, im Gewühl Hunderter Menschen. Der bärtige Mann steht im Verdacht, den dunkelhaarigen Jungen "mitgenommen zu haben", so nennt es die Polizei. Der Teddy könnte ein Lockmittel gewesen sein. Die Polizei hält eine Straftat für möglich, übernommen hat die Mordkommission.
Dicht gedrängt
Mohamed war mit seiner Mutter und den beiden Geschwistern auf dem Gelände des Landesamts für Gesundheit. Hunderte Menschen warten dort jeden Tag auf ihre Registrierung. Dicht gedrängt stehen sie hinter Zäunen, sitzen in Decken eingemummelt auf Bänken, Kinder schlafen auf Taschen, spielen im Dreck. Viele sind erschöpft. Im Andrang werden immer wieder Flüchtlinge überrannt, verletzt.
Dazwischen Mohamed aus Bosnien-Herzegowina und seine Familie. "Ich hatte meine Kinder die ganze Zeit im Auge", berichtet seine Mutter dem Fernsehsender n-tv. Als sie eine Wartenummer gezogen habe, sei der Kleine auf einmal weggewesen. "Ich habe überall gesucht, doch ihn nicht gefunden."
Als die Mutter den Vierjährigen vermisst meldet, sucht die Polizei die Umgebung ab, hängt Plakate auf. "Wir haben gehofft, die anderen Flüchtlinge auf dem Gelände erkennen ihn wieder", sagt ein Polizeisprecher. Nach einem Hinweis wird vier Tage später ein Park durchkämmt. Nach einer Woche setzt die Polizei Spürhunde ein. Der Vierjährige bleibt verschwunden. Dann das Video, Mohamed an der Hand eines Fremden, veröffentlicht acht Tage nach der möglichen Straftat. In Berlin werden Vorwürfe laut, die Polizei habe die Situation unterschätzt und zu spät gehandelt. Glaubten die Beamten, der Kleine werde im Gewühl schon wieder auftauchen?
35 Hinweise eingegangen
Auf dem Video ist zu sehen, dass er das Gelände der Registrierungsstelle um 14.40 Uhr mit dem unbekannten Mann verließ. Um 16.30 Uhr habe seine Mutter ihn vermisst gemeldet, heißt es bei der Polizei. Eine Stunde später habe die Kripo das Gelände abgesucht. Schwierig sei die Suche auch gewesen, weil die verzweifelte Mutter widersprüchliche Angaben gemacht habe, wann und wo sie Mohamed zuletzt gesehen hatte. Erst nach Tagen sei klar gewesen, wo die Spürhunde nach seiner Fährte suchen konnten. Beim zweiten Versuch schlugen sie an. Nur so habe man die richtigen Videos auswerten können, sagt der Polizeisprecher.
Gesucht wird ein 35 bis 50 Jahre alter Mann mit schlanker Statur, dunklen Haaren, Geheimratsecken und Bart. 35 Hinweise gingen bis gestern ein. Mehr gibt die Polizei nicht heraus. Die Mutter wendet sich an den mutmaßlichen Entführer. Mit ihrer Tochter - ein paar Jahre älter als Mohamed - hält sie sein Foto in die Fernsehkameras. Schickt Mohamed nach Hause, bittet sie.
Vermisste Kinder
Mehr als 100 000 Kinder und Jugendliche werden nach Angaben der "Initiative Vermisste Kinder" allein in Deutschland jährlich als vermisst gemeldet - in den allermeisten Fällen tauchen sie wieder auf.
Doch manche Schicksale bleiben ungeklärt: So ist etwa der Erstklässler Elias aus Potsdam seit dem frühen Abend des 8. Juli verschwunden. Am 2. Mai 2015 verschwand die fünfjährige Inga aus Schönebeck in Sachsen-Anhalt.
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