Zeitgeschehen - Vor 30 Jahren hielt das Geiseldrama die Nation drei Tage lang in Atem

Gladbeck – 54 Stunden voller Verzweiflung und Sensationsgier

Von 
Helge Toben
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Gladbeck. Wo Brigitte Gräber in ihrem Blumenladen „Grüne Oase“ heute Rosen verkauft, da hat vor 30 Jahren eines der spektakulärsten Verbrechen der Nachkriegszeit begonnen: das Gladbecker Geiseldrama. 54 Stunden voller Verzweiflung, Sensationsgier, Medien- und Polizeiversagen nehmen am Morgen des 16. August 1988 im nordrhein-westfälischen Gladbeck ihren Anfang: Mit Maschinenpistolen bewaffnet, überfallen Hans-Jürgen Rösner (damals 31) und Dieter Degowski (damals 32) im Stadtteil Rentfort-Nord eine Deutsche-Bank-Filiale und nehmen zwei Angestellte als Geiseln. Wenig später umstellt die Polizei die Filiale. Die Gangster geben ein erstes Telefon-Interview. Verbunden durch einen Innenhof ragt auf der gegenüberliegenden Seite ein längst leerstehender Wohnblock mit 13 Stockwerken in die Höhe – eine gewaltige Ruine, die bald abgerissen werden soll. Eine Mitarbeiterin des Blumengeschäfts erzählt zögernd, dass sie vor 30 Jahren in diesem Hochhaus lebte. Von ihrem Wohnzimmerfenster aus konnte die mittlerweile 64-Jährige in den Innenhof sehen. „Wir hörten laute Stimmen und haben dann geguckt.“ Sie habe selbst gesehen, wie ein Polizist nur in Unterhose bekleidet das geforderte Lösegeld vor die Eingangstür legte.

Anwohner schauen zu

Bodo Wölk betritt den Laden und kauft eine Rose. Auch der 67-Jährige wohnte schon damals in der Nähe. Er habe das Drama im Fernsehen gesehen, „es gab ja eine Live-Übertragung“, erzählt er. In einer Wohnung am Ende der Straße, an der das Geschäftszentrum liegt, „saßen wir mit unseren Nachbarn zusammen und haben vom Balkon aus geguckt“. In Gladbeck lassen die Gangster ihre Komplizin Marion Löblich zusteigen. Die Flucht geht Richtung Norden, Polizei und Journalisten bleiben ihnen auf den Fersen. Mehrfach erpressen die Gangster neue Wagen, bevor sie am Mittwochabend an einer Haltestelle in Bremen-Huckelriede einen Nahverkehrsbus mit 32 Fahrgästen kapern. Fünf Geiseln werden am Abend wieder freigelassen. Wenige Stunden später an der Raststätte Grundbergsee dürfen auch die Bankangestellten gehen. Als die Polizei Löblich überwältigt und vorübergehend festhält, tötet Degowski den 15-jährigen Italiener Emanuele de Georgi mit einem Kopfschuss. Auf dem Weg zum Einsatzort verunglückt ein Polizeiwagen. Polizeiobermeister Ingo Hagen stirbt, ein weiterer Beamter wird schwer verletzt. Am frühen Donnerstagmorgen rollt der Bus bei Bad Bentheim über die niederländische Grenze und stoppt etwa fünf Kilometer danach. Im Austausch gegen ein neues Fluchtauto werden fast alle Geiseln freigelassen. Nur mit zwei jungen Frauen setzt das Trio seine Fahrt fort.

Kritik an Journalisten und Polizei

Am Vormittag erreichen die Verbrecher Köln. Im Gespräch mit Journalisten auf offener Straße, mitten in der Fußgängerzone, drohen sie, „zu allem entschlossen“ zu sein. Richtung Frankfurt fahren sie am Mittag davon. Für kurze Zeit fährt ein Journalist mit. Auf der A3 bei Bad Honnef rammt die Polizei das Auto um kurz vor 14 Uhr. Es kommt zu einer Schießerei. Die 18 Jahre alte Silke Bischoff wird dabei von Rösner getötet. Neben der Autobahn erinnert heute eine Gedenkstätte an sie. In Bremen ist am Busbahnhof Huckelriede ein Erinnerungsort an das Drama geplant. Live ausgestrahlte Fernseh- und Radiointerviews des Trios, an seiner Seite Geiseln in Todesangst, hatten die Nation am Verbrechen teilhaben lassen. Schon während der Geiselnahme entbrannte in Deutschland eine heftige Diskussion über Grenzen journalistischer Berichterstattungspflicht. Der Presserat legte später fest, dass es Interviews mit Tätern während des Geschehens nicht geben darf. Der Polizei wurde vor allem vorgeworfen, die Geiselnahme nicht schon viel eher bei mehreren Gelegenheiten beendet zu haben. Die Polizeibehörden überarbeiteten grundlegend ihre Einsatztaktik.

Degowskis lebenslange Haft wurde 2017 zur Bewährung ausgesetzt. Im Februar 2018 wurde er mit neuer Identität aus der Haft entlassen. Rösner, bei dem zusätzlich Sicherungsverwahrung angeordnet worden war, hat ebenfalls einen Antrag auf Entlassung gestellt. Löblich, zu neun Jahren Haft verurteilt, hat ihre Strafe längst abgesessen. Auch sie bekam eine neue Identität.

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