Viernheim. Anekdoten über die 1920er Jahre hatte Birgit Käser für ihren „Grammophonabend mit Schellackplatten“ im Viernheimer Museum versprochen. Und davon hörten die 25 Gäste viele.
So wurde 1926 in der Chronik der Apostelkirche zum damals neuen Haarschnitt „Bubikopf“ die Frage vermerkt: „Wird er sich durchsetzen?“ Im Jahr darauf gab es dort sogar die Notiz, dass sich in Heppenheim eine Frau die Haare entsprechend schneiden ließ, aber ohne Wissen des Ehemannes. Der habe dann beim Anblick seiner Frau einen Wutanfall bekommen, zertrümmerte das Mobiliar der Wohnung und wurde schließlich sogar in die Irrenanstalt eingewiesen.
Welcher Mann würde heute so auf den neuen Haarschnitt seiner Frau reagieren? Die Chronik war eine von zwei Quellen, aus der Käser vortrug. Die anderen Berichte stammten aus den „Jahresberichte“ ihrer Urgroßmutter, die vor allem die Familiengeschichte festhielt. Dazu erklang Grammophonmusik – mal ein Marsch, mal ein Weihnachtslied oder ein Walzer. Tanzveranstaltungen waren nämlich damals beliebt. Das Besondere: Die Damen erhielten Karten, auf der die Tanzlieder standen und die Herren konnten sie darum bitten, mit ihnen zu einem bestimmten Stück tanzen zu dürfen. Dann wurde der Name dort eingetragen.
Politische Umbrüche, Hunger, die Besetzung der Pfalz durch die Franzosen, der Putschversuch von Hitler und Ludendorf in München sowie die Einschränkung der Versammlungsfreiheit und die Angst vor Bürgerkrieg und Umsturz traf auf Freude über Verlobung oder Nachwuchs in der Familie. Der Vater erhielt eine neue Stelle als Volksschullehrer, ein Umzug folgte. Das private Leben traf auf politische Ereignisse.
Spanische Grippe sorgte für tägliche Todesfälle
Dass die „Goldenen Zwanziger“ für viele gar nicht golden waren, sondern entbehrungsreich, wurde oft deutlich: Viele Kriegsversehrte, politische Morde und während der „Spanischen Grippe“ 1920 fanden täglich bis zu sieben Beerdigungen bei rund 10 000 Einwohnern statt. Außerdem berichtet die Chronik von häufigen tödlichen Arbeitsunfällen zum Beispiel beim Einsturz eines Kamins. Das größte Unglück der Region betraf auch Viernheim: die Explosion des Stickstoffwerks in Oppau bei der BASF im Jahr 1921. 559 Tote, darunter auch Arbeiter aus dem damaligen Dorf.
Die 1920er werden im Nachhinein oft verklärt – womöglich auch deshalb, weil die Naziherrschaft danach im Vergleich deutlich schlimmer war. Stichwort Gold: Käser nannte oft, wie viel zehn Goldmark in Papiermark wert waren – schließlich 150 Milliarden auf dem Höhepunkt der Inflation 1923. Die Leute erledigten ihre Einkäufe mit dicken Geldbündeln, auf denen Ziffern mit vielen Nullen standen. Käser ließ Scheine herumgehen. Die galoppierende Inflation wurde erst beendet, als die Rentenmark eingeführt wurde. Was in der Chronik nicht auftauchte, war der „Schwarze Freitag“ an der New Yorker Börse im Oktober 1929: Massive Kursverluste lösten eine Weltwirtschaftskrise aus. Vermutlich dauerte es damals deutlich länger, bis die Auswirkungen auch in Viernheim zu spüren waren. Doch über die zehn Jahre steht auch Positives in der Chronik von St. Aposteln: Viernheim wurde elektrifiziert, es gab auch eine Gasversorgung und Vereinsgründungen.
Die Idee zu dem Nachmittag entstand, weil die 60 Jahre alte Birgit Käser sich sehr für Familien- und Heimatgeschichte interessiert und ihr Schwager Achim Meyer-Laack fünf Grammophone samt Schellackplatten besitzt. Beides wurde kombiniert, wobei Schwester Barbara Käser an diesem Nachmittag fürs Plattenauflegen zuständig war.
Der nächste Termin für Erwachsene ist im Museum die Themenführung „Vom Pessachfest bis zur Synagoge“ am Sonntag, 10. November, von 15 bis 16.30 Uhr. Am Tag zuvor findet in der Kulturscheune von 18 bis 19 Uhr eine Gedenkstunde mit Vortrag zur Reichspogromnacht statt.
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