Viernheim. „Wir wollen nicht nur jammern, Ihr Beruf hat viele schöne Seiten, das sollte hervorgehoben werden!“ Das betonte der Arbeitswissenschaftler Bernd Rudow (kl. Bild) in der Viernheimer Kulturscheune, bevor er seine Erkenntnisse den rund 20 Anwesenden beim Themenabend „Beruf Erzieherin/Erzieher – mehr als Spielen und Basteln“ vorstellte.
Es sei nämlich, so Rudow, noch immer der Fall, dass drei Viertel der Fachkräfte der Meinung sind: Das Vorurteil, dass Erzieherinnen und Erzieher nur Spielen und Basteln, sei vorherrschend. Seine ironische Bemerkung „Was andere als Hobby betreiben, ist bei Ihnen Beruf: Ein bisschen springen, turnen, singen, alles Pillepalle“, löste bei den Anwesenden Gelächter aus. Man war sich einig: Es ist ein anspruchsvoller Beruf.
Nicht nur Betreuung, sondern ein Bildungsauftrag
Und diese Ansprüche sind vor allem nach den mittelmäßigen Ergebnissen für Deutschland in den PISA-Bildungsstudien gestiegen. Die Erzieherinnen und Erzieher sollen nämlich nicht nur betreuen, sondern haben auch einen Bildungsauftrag. Er fragte die Zuhörer, ob sie den erfüllen können. Eine Erzieherin antwortete: „60 Prozent der Kinder bei uns haben Migrationshintergrund, es werden in der Gruppe sechs Sprachen gesprochen und die Eltern sprechen daheim kein Deutsch. Es gibt also eine Sprachbarriere. Der Bildungsauftrag ist nicht zu schaffen.“
Thomas Sebert, Leiter des Awo-Familienzentrums, hatte zu der Veranstaltung eingeladen. Sein Kommentar: „Nur einige wenige Einrichtungen in Deutschland können den Bildungsauftrag wenigstens teilweise erfüllen.“ Die Investitionen in den Bereich frühkindliche Bildung seien über Jahrzehnte vernachlässigt worden, obwohl sich dies volkswirtschaftlich rechnen würde. Er nannte Stellschrauben: Die Leitung der Kitas müsse besonders im Hinblick auf den Umgang mit Ressourcen und bessere Qualifizierung der Mitarbeiter geschult werden. In der Praxis sei es aber so, dass Quereinsteiger und Leute mit verkürzter Ausbildungszeit in den Kitas arbeiten, „verbunden mit Qualitätsverlust“.
Peter Lichtenthäler, Stadtverordneter und langjähriger Kita-Leiter, widersprach: „Klar, Quereinsteiger können kein Elterngespräch führen. Aber es gibt Menschen, die sich sehr gut einbringen.“ Was jedoch auch der Fall sei: „Es gibt Eltern mit Erwartungen an die Kita, die nicht erfüllt werden können.“ Sebert ergänzte dazu: „Erzieher sollen Leistungen der Familien ersetzen.“ Und Rudow stellte klar: „Kitas dürfen kein Reparaturbetrieb werden!“ Ein Gast meinte dazu: „Kinder werden teilweise als Statussymbole gesehen: Man hat Haus, Auto, Kind.“ Sebert ergänzte, dass es in Hessen ein Förderprogramm gibt, mit dem zum Beispiel Coaching, Teamnachmittage oder Hauswirtschaftskräfte finanziert werden können.
Der Arbeitswissenschaftler will in Studien herausgefunden haben, dass die Zufriedenheit der Erzieherinnen und Erzieher mit ihrer Arbeit vergleichsweise hoch sei. Sie liege bei 80 Prozent. Eine Frau ergänzte, dass das Einkommen in diesem Bereich von jungen Leuten, die sich einen Beruf auswählen, oft zu niedrig eingeschätzt werde: Das läge nämlich ungefähr im Bereich von Mechatronikern. Weiter gebe es mittlerweile in der Ausbildung ein relativ hohes Einkommen, nämlich 1500 Euro brutto im dritten Lehrjahr. Eine andere Frau hatte zuvor berichtet, dass bei ihrer Ausbildung vor acht Jahren viele aufgehört hätten, weil sie es sich nicht leisten konnten, drei Jahre nichts zu verdienen.
Zurück zu den Studien von Rudow, der sich seit über 20 Jahren mit den Arbeitsbedingungen in diesem Beruf beschäftigt: „Psychische Belastungen sind erfassbar“, betont er. Es gebe Anforderungen in den körperlichen, kognitiven und sozial-emotionalen Bereichen – und daraus ergebe sich eine Belastung. Die sei individuell unterschiedlich. So werde ein bestimmter Lärmpegel von manchen als belastend empfunden, von anderen nicht.
Zum Thema Burnout meinte er: „Es gibt Wissenschaftler, die sagen: ,Ihre Arbeit ist schon eine Diagnose – und meinen damit Burnout.“ Doch er betonte: „Burnout-Symptome hat jeder von uns mal, aber deshalb hat man noch keinen Burnout.“ Diese emotionale Erschöpfung trete auch dann auf, wenn „ich mich stark engagiere, aber dafür keine Anerkennung bekomme“.
Andererseits würden psychische Beschwerden im Erzieherberuf überdurchschnittlich häufig auftreten. Ein Problem sei im Alltag die Gestaltung von Pausen, dafür fehle oft die Zeit. Die Arbeitsorganisation führe oft zu Streß bei den Mitarbeitern, auch seien die Kinder „schwieriger“ geworden, benennt er verschiedene Probleme.
Sein neuestes Buch „Gesunde Kita-Arbeit. Tipps und Handlungsempfehlungen für Leitungskräfte“ beschäftigt sich mit dem Thema. Rudow empfiehlt, auch die positiven Seiten des Berufs zu sehen: „Ich staune oft, wie viel Kreativität von Ihnen entwickelt wird. Bei Ihrer Arbeit haben Sie viel mehr Möglichkeiten als Lehrer.“ (Bild: Roland Schmellenkamp)
Bernd Rudow
- Bernd Rudow studierte Psychologie mit dem Schwerpunkt Arbeitspsychologie. Der Professor arbeitete unter anderem an den Universitäten Leipzig, Mannheim, Merseburg und Heidelberg. Er wohnt seit 2005 in Viernheim.
- Seine Forschungsschwerpunkte im Bereich „Arbeit“ sind Belastung und Stress, psychische Gesundheit, Organisation und Ergonomie. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht.
- Rudow hat unter anderem mit den Unternehmen Volkswagen, Fraport, den Mainzer Verkehrsbetrieben sowie Krankenkassen, Berufsgenossenschaften und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft zusammengearbeitet.
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